Der Mordfall Carew
- Autor: Stevenson, Robert Louis
Rund ein Jahr später, im Oktober 18 , ging ein Aufschrei durch London, ob eines scheußlich abartigen Verbrechens. Die hohe Stellung des Opfers machte den Fall besonders aufsehenerregend. Einzelheiten gab es nur wenige, doch umso überraschender. Ein Dienstmädchen, das in einem Hause nahe dem Fluss alleine lebte, war gegen elf Uhr in das obere Stockwerk gegangen, sich niederzulegen. Obwohl die Stadt in dichtem Nebel lag, war diese Straße wolkenlos und der Weg, auf den das Mädchen von ihrem Fenster aus hinabblicken konnte, vom Vollmond hell beschienen.
Das Mädchen schien romantisch veranlagt; sie setzte sich auf einen Koffer unters Fenster und verfiel in süße Träumerei. Später, als das Mädchen eine Aussage treffen musste, pflegte sie unter üppigem Tränenstrom zu sagen, sie habe sich nie zuvor friedvoller mit der Welt verbunden gefühlt, nie liebevoller über die Menschen nachgedacht.
Als sie so in Träume versunken da saß, beobachtete sie einen älteren, vornehm wirkenden Herrn mit ergrautem Haar. Er kam entlang des Weges, verfolgt von einem eher kleinen Mann, den sie erst später bemerkte. Der Verfolger beeilte sich, den Herrn einzuholen. Unter dem Fenster des Mädchens hatte er ihn in Hörweite erreicht. Das Mädchen beobachtete, wie der ältere Mann sich verbeugte und den anderen in freundlicher Weise anredete. Besonders wichtig schien die Begegnung nicht. Den Gesten nach, erkundigte sich der eine lediglich nach dem Weg.
Während dieser Begegnung schien der Mond auf das Gesicht des älteren Herrn und das Mädchen blickte wohlwollend auf sein Antlitz, das eine tadellose und altmodische Duldsamkeit ausstrahlte, die nicht ohne Hochmut war, wie das einem selbstzufriedenen Manne eigen war. Danach blickte sie zu dem kleineren Mann und war überrascht, in ihm jenen Mister Hyde wieder zu erkennen, der einmal ihren Herrn besucht hatte. Sein damaliges Auftreten ließ sie eine große Abneigung gegen ihn hegen.
Mister Hyde trug einen schweren Stock bei sich, mit dem er herumfuchtelte; er entgegnete mit keiner Silbe und konnte seine Ungeduld kaum unterdrücken. Dann, plötzlich in wilde Wut geratend, schlug er mit seinem Stock um sich und führte sich auf wie ein Besessener. Höchst überrascht und mit verstimmter Miene trat der alte Herr einen Schritt zurück. Daraufhin durchbrach Mister Hyde alle Schranken, knüppelte ihn nieder und trat sein Opfer mit Füßen. Ein ganzer Hagel von Schlägen trommelte auf den Wehrlosen nieder, dessen Knochen hörbar krachten. Der misshandelte Körper zuckte auf dem Wege liegend. Ob dieses schrecklichen Anblicks und der furchterregenden Geräusche fiel das Mädchen in Ohnmacht.
Als sie wieder erwachte, war es bereits zwei Uhr. Sie rief die Polizei. In der Mitte des Weges lag das schrecklich zugerichtete Opfer, vom Mörder fehlte jede Spur; der hatte sich längst aus dem Staub gemacht. Lediglich der Knüppel, mit dem Hyde die Tat verübt hatte, war trotz des schweren Materials in der Mitte durchgebrochen. So groß war die Wucht, mit der diese sinnlose Grausamkeit vollbracht wurde. Das abgesplitterte Stück war in die nahe Rinne gerollt, während der Mörder vermutlich das andere Stück mit fortgenommen hat.
Bei der Leiche war eine Geldbörse und eine goldene Uhr gefunden worden, jedoch fehlten Papiere oder Visitenkarten. Lediglich ein versiegelter, frankierter Brief mit dem Namen und der Adresse von Mister Utterson lag da; der hätte vermutlich den Weg zur Post nehmen sollen.
Dieser Brief erreichte am nächsten Morgen den Anwalt, noch bevor er richtig wach war. Er hatte das Schreiben kaum erblickt, waren ihm die näheren Umstände erzählt worden. "Bevor ich die Leiche nicht gesehen habe, sage ich kein Wort", sagte Utterson mit feierlicher Miene. "Hätten Sie die Freundlichkeit zu warten, bis ich mich angekleidet habe?". Nach dem Frühstück, das er mit derselben ernsten Haltung einnahm, eilte er zur Polizei, wo der Tote hingebracht worden war.
"Ja, ich kenne diesen Mann. Es schmerzt mich, Ihnen sagen zu müssen, dass dies Sir Danvers Carew ist", sagte der Anwalt.
Der Beamte war bestürzt. Dann holte sein beruflicher Ehrgeiz ihn ein. "Das wird für großen Wirbel sorgen", sagte er. "Vielleicht können Sie uns bei der Aufklärung helfen". Er berichtete in kurzen Zügen von den Vorkommnissen und von den Erzählungen des Mädchens; dann zeigte er den zerbrochenen Stock.
Utterson hatte schon befürchtet, den Namen Hyde zu hören. Als er jedoch den Stock sah, konnte er nicht länger zweifeln. Obwohl das schwere Holz zersplittert war, erkannte er ihn ihm den Stock wieder, den er vor Jahren Henry Jekyll geschenkt hatte.
"Ist dieser Mister Hyde von kleinem Wuchs?", fragte er.
"Ja, böse aussehend und auffallend klein", sagte der Beamte, "so beschrieb ihn zumindest das Mädchen."
Der Anwalt grübelte kurz, dann hob er den Kopf. "Wenn Sie mich in meinem Wagen begleiten, dann kann ich Sie zu seinem Hause führen - glaube ich zumindest".
Inzwischen war es neun Uhr geworden und der erste Nebel in diesem Jahr lag über der Stadt. Der Himmel schien überzogen von einem weiten, schokoladenfarbenen Leichentuch. Der Wind trieb den geballten Dunst vor sich her, dass Mister Utterson, der im Wagen sitzend von Straße zu Straße schlich, eine sich wiederholende Zu- und Abnahme des Zwielichtes beobachten konnte. Ein elendes Stadtviertel, dieses Soho, mit seinen schmierigen Straßen, den schludrigen Bewohnern und mit seinen trostlosen Laternen. Dem Anwalt erschien dieser Wechsel zwischen Hell und Dunkel, wie ein wüstes Traumbild. Traurige Gedanken beschlichen Mister Utterson und wenn er seinen Beifahrer anblickte, überkam ihn jener Anflug von Furcht vor Gesetzesvertretern, die zuweilen auch den Ehrenvollsten überfallen kann.
Just als der Wagen vor der besagten Adresse hielt, machte der Nebel auf und zeigte eine elende Straße, eine fürstlich aufgedonnerte Kneipe, eine Bar letzten Ranges, eine Pinte, in der billigste Ware angeboten wurde. In Lumpen gekleidete Kinder lungerten in den Einfahrten herum, Frauen unterschiedlichster Herkunft auf dem Weg, ihren morgendlichen Schnaps zu trinken. Kaum hatte Utterson die Umgebung aufgenommen, hüllte sich alles schon wieder in Nebel. Das war das Haus von Henry Jekylls Günstling, dem Mann, der eine Viertelmillion Pfund Sterling erben sollte.
Eine bösartig blickende Frau, mit vergilbtem Gesicht und weißem Haar, öffnete mit heuchlerischem Gehabe und tadellosem Benehmen. Sie bestätigte, dass dies Mister Hydes Wohnung sei. Jedoch sei der Herr gerade nicht zugegen, spät nach Hause gekommen und bereits nach einer Stunde wieder fortgegangen. Er habe unregelmäßige Gewohnheiten, sagte sie. So habe sie ihn gestern nach zwei Monaten zum ersten Mal wieder gesehen.
"Wir möchten sein Zimmer besichtigen", sagte Utterson. Und bevor die Frau den Wunsch abschlagen konnte, stellte er seinen Begleiter vor. "Das ist Inspektor Newcomen von Scotland Yard", sagte er, "das hätte ich Ihnen gleich sagen sollen".
Schadenfroh freudig rief die Frau "Ah, hat er Schwierigkeiten? Was lastet man ihm an?"
"Ist wohl nicht sehr beliebt", murmelten Utterson und der Inspektor und sahen sich im Raum um.
Im gesamten Gebäude nutzte Mister Hyde nur einige Zimmer, obwohl diese Frau außer ihm keine Menschenseele beherbergte. Die Räume waren exquisit und zeugten von feinem Geschmack. Silbernes Geschirr, eine Weinkammer, elegantes Tischtuch, hinter dem wertigen Bild an der Wand vermutete Utterson ein Geschenk Jekylls, der auf diesem Gebiete als Kenner galt. Wunderbare Teppiche lagen umher. Jedoch hatten die Räume den Anschein, vor kurzem geplündert worden zu sein. Kleider, eilig auf dem Boden verstreut, das Innere der Taschen nach außen gestülpt, offene Schubladen und ein Haufen Asche im Kamin, als ob kürzlich Papiere verbrannt worden wären. Aus den Resten zog der Inspektor den Rücken eines grünen Scheckbuches hervor.
Hinter der Tür fand der Inspektor die zweite Stockhälfte, was den Verdacht des Beamten bestätigte. Dass auf der Bank noch mehrere tausend Pfund für den Mörder bereitlagen, reichte dem Inspektor, er war schlichtweg begeistert.
"Nun habe ich ihn fest in der Hand", sagte er zu Utterson. "Sie können sich auf mich verlassen. Dieser Mann muss vollständig den Kopf verloren haben, sonst hätte er doch nie die Tatwaffe im Zimmer gelassen und schon gar nicht das Scheckbuch verbrannt". Nun reiche es aus, auf der Bank auf ihn zu warten und einen Steckbrief zu veröffentlichen.
Dies aber gestaltete sich schwierig. Hyde war zu wenig bekannt, das Dienstpersonal hatte ihn erst zwei Mal gesehen und eine Familie gab es nicht. Es gab weder Fotos noch sonstige Beschreibungen, und wenn es jemand versuchte, lagen die Beschreibungen so weit voneinander entfernt, dass sie unbrauchbar waren. Lediglich in einem Punkt glichen alle Beschreibungen: Ein beißender Eindruck einer nicht näher zu beschreibenden Fratze, das der Fliehende bei jedem, der ihm begegnet war, erweckt hatte.