Der Garten im Brunnen
Ein Bauer hatte nach dem Tod seiner ersten Frau, die ihm ein Mädchen und einen Knaben geboren hatte, eine zweite geheiratet. Von dieser bekam er noch einen Sohn, der hieß Kasperle. Die zweite Frau aber war eine böse Stiefmutter, und behandelte ihre beiden Stiefkinder sehr übel. So ließ sie die Kinder zerlumpt umhergehen und gab ihnen kaum genug zu essen. Für Kasperle tat sie dagegen alles. Er bekam nur die besten Kleider, und seine Mutter gab ihm in allen Stücken den Vorzug. Der Vater mischte sich jedoch nicht ein, so oft auch die beiden armen Kinder ihm ihr Leid klagten. Denn er war schon kränklich und musste selbst so manches von seiner Frau erdulden.
Eines Tages kam die böse Stiefmutter auf den Gedanken, die beiden Stiefkinder aus dem Wege zu räumen. Dadurch wollte sie ihren eigenen Sprössling zum alleinigen Erben machen. Also nahm sie die beiden Kinder mit in den tiefen Wald, um Erdbeeren zu suchen. Die Kinder waren sehr fleißig, doch als der Abend kam, war die Mutter plötzlich verschwunden.
Das Mädchen weinte sehr, denn sie glaubte schon, im Walde umkommen zu müssen. Aber der Knabe tröstete sie und sprach: "Wir kommen schon nach Hause, denn ich habe auf dem Hinweg allerlei Zweige aus Langeweile an den Bäumen geknickt." So fanden die Kinder denn auch wirklich nach Hause zurück, was die Stiefmutter erst richtig verärgerte.
Sie wollte es nun klüger anfangen und führte die Kinder noch tiefer in den Wald. Der Knabe streute aber heimlich Erbsen auf den Weg, sodass die Kinder erneut aus der finstren Wildnis nach Hause kamen. Da ergrimmte die böse Stiefmutter vor Zorn, weil ihr Plan einfach nicht gelingen wollte.
Einige Tage später schöpfte der Knabe gerade Wasser aus dem Ziehbrunnen im Garten seines Vaters, da warf die Stiefmutter ihn hinein. Statt in das Wasser zu fallen, kam der Knabe aber in einen wunderschönen Garten, der voll mit Blumen und Bäumen war. Der Knabe konnte sich nicht satt sehen und lief immer weiter. Doch dann erkannte er, dass er allein vom Schauen nicht satt werden konnte, denn es hungerte ihn sehr. Nun sah er ein Bäumchen voll schöner roter Äpfel und sprach:
"Liebes Bäumchen, schüttle dich und rüttle dich,
und wirf deine Äpfel über mich."
Das Bäumchen schüttelte sich, und viele schöne rote Äpfel lagen im Gras. Der Knabe aß sich satt und ging weiter. Da sah er ein Bäumchen stehen, das über und über voll Gold hing. Das funkelte dem Knaben gar sehr in die Augen, und er sprach:
"Liebes Bäumchen, schüttle dich und rüttle dich,
und wirf Goldblättlein über mich."
Kaum hatte er das ausgesprochen, flimmerten seine Kleider von feinstem Golde. Nach so viel Glück kam aber auch die Sehnsucht in sein Herz, und der Knabe seufzte: "Ach, wenn ich doch bei meinem Vater wäre!" Und siehe, da stand ein graues Männlein vor ihm, zeigte ihm einen Weg und sprach: "Gehe nur immer geradeaus bis zu der Stelle, wo du hergekommen bist. Du wirst deine Schwester beim Wasser schöpfen finden. Hänge dich an ihren Eimer."
Der Knabe machte es so, und es geschah alles, wie das Männchen gesagt hatte. Die Schwester wunderte sich sehr, als sie den goldbedeckten Bruder am Eimer hängen sah. Sie freute sich gar sehr, und ihr Bruder musste gleich alles erzählen. Dann ließ sie sich vom Bruder in den Brunnen stoßen, und es widerfuhr ihr dasselbe, bevor sie vom Bruder wieder herausgezogen wurde. Nun gingen die beiden Kinder zum Vater und sagten: "Freue dich, nun sind wir reich genug, um glücklich zu sein!"
Die böse Stiefmutter ärgerte sich darüber gewaltig. Sie ließ sich aber nichts anmerken, und die Kinder mussten ihr alles haarklein erzählen. Dann sagte die Stiefmutter es ihrem Sohn Kasperle und warf ihn in den Brunnen hinein. Auch er kam wieder in den schönen Garten. Und als es ihn hungerte, sah er auch ein Bäumchen voll mit Äpfeln. Da sprach er:
"Liebes Bäumchen, schüttle dich und rüttle dich,
und wirf feine Äpfel über mich!"
Das Bäumchen schüttelte sich, und die Äpfel fielen dem Kasperle gar hart auf den Kopf! Er griff hastig nach dem erstbesten Apfel und biss hinein. Da verzog es ihm gar schauerlich den Mund. Der Apfel schmeckte ja so sauer, und ein garstiger Wurm war auch noch darin. Bald darauf sah er ein Bäumchen, das wie Gold glänzte. Kasperle rief:
"Liebes Bäumchen, schüttle dich und rüttle dich,
und wirf deine Blättlein über mich!"
Da tropfte es dick und schwarz von dem Bäumchen herab, und er war alsbald mit einer grauslichen Pechkruste überzogen. Kasperle musste jetzt weinen und verlangte nach seiner Mutter, damit sie ihn aus der zähen Haut erlöse. Aber plötzlich stand das graue Männchen vor ihm und sagte: "Gehe dahin, wo du herkommst, und hänge dich an den Eimer, mit dem deine Mutter Wasser schöpfen wird."
Die Stiefmutter hatte am Brunnen gewartet und zog hastig den Eimer herauf, als sie eine schwere Last daran hängen fühlte. Sie hoffte schon, dass Kasperle mit Gold überhäuft zurückkehren werde. Doch welch ein Entsetzen fuhr ihr in die Glieder, als sie den armen Jungen in solchem Zustande fand. Das Pech ließ sich beim besten Willen nicht ablösen, was die Mutter geradezu rasend machte. Wütend schimpfte sie den kleinen Pechvogel aus und versetzte ihm ein Sack voller Hiebe.
Als sie wieder bei Sinnen war, kam ihr schließlich der Gedanke, den kleinen Pechvogel in den warmen Backofen zu stecken, da sie ohnehin Brot backen musste. Sie tat es, vergaß aber, den Jungen rechtzeitig wieder herauszuziehen. Als sie den Ofen endlich öffnete, floss ihr das Pech in Strömen entgegen, doch Kasperle war von oben bis unten geröstet.
Aus lauter Gram über ihre Missetaten lief die Stiefmutter schließlich davon und kam nie mehr wieder. Der Vater aber erholte sich auf wundersame Weise und lebte mit seinen glücklichen Kindern herrlich und in Freuden.