Der Brief
- Autor: Poe, Edgar Allan
Einige hoffnungslose Minuten lang gab sich Augustus der Verzweiflung hin, die Koje nie mehr lebendig verlassen zu dürfen. So entschloss er sich, dem Nächsten, der hereinkäme, von meiner Anwesenheit zu erzählen. Es schien ihm besser, dass ich bei den Meuterern mein Glück versuchte, als im Kielraum zu verdursten. Immerhin war der Grampus nun schon zehn Tage auf dem Meer und mein Wasservorrat war für kaum mehr als vier Tage gewesen.
Normalerweise war Augustus um keine Idee verlegen, doch in dieser Situation schien ihm sein Leben keinen Schuss Pulver mehr wert. Sein hauptsächliches Hindernis stellten die Handschellen dar. Zuerst glaubte er, sich nie im Leben ihrer entledigen zu können. Doch dann erkannte er, dass er einfach nur die Hände durch das Eisen drücken musste; weil er noch so jung war, gaben seine Knochen noch nach.
Nun öffnete er den Strick an seinen Füßen, ließ die Enden aber an den Füßen hängen. So konnte er sich tarnen, wenn jemand herunterkam. Er war gerade dabei, die Wände genauer zu untersuchen, ob es eine Möglichkeit gäbe, unter Deck zu kommen, da hörte er, wie jemand herunterkam. Schnell knotete er die Fußfessel an und drückte seine Hände wieder durch die Eisen.
Es war Dirk Peters, dem voran Tiger in die Koje sprang. Augustus hatte den Hund an Bord gebracht, um mir eine große Freude zu machen. Er holte ihn von zuhause weg, als ich im Kielraum auf die Abfahrt wartete. Der Hund war seit der Meuterei verschwunden gewesen. Nun hatte Dirk Peters das Tier aus einem Loch unter einem Fangboot gerettet. Aus Gutmütigkeit, die mein Freund wohl zu schätzen wusste, hatte er ihm Tiger nun als Gefährten in die Koje gebracht; außerdem noch etwas Salzfleisch, Kartoffeln und Wasser. Dann ging er wieder an Deck und versprach, in den nächsten Tagen wieder etwas zu Essen zu bringen.
Kaum wieder alleine, befreite Augustus sich aus den Fesseln, kehrte die Matratze um, auf der er saß, und schnitt mit dem Taschenmesser eine Planke an der Wand aus. Zur Not konnte er die Stelle wieder mit der Matratze verdecken. Jedoch störte ihn an diesem Tage niemand mehr und er konnte die Planke völlig teilen.
Mein Freund konnte sich deshalb so sicher fühlen, weil die Schurken seit der Meuterei sich ausschließlich in der Kajüte des Kapitäns aufhielten - wegen des Weines und den leckeren Vorräten. Ansonsten kümmerte sich kaum einer um die Führung des Schiffes, was unser Glück war.
Am nächsten Morgen beendete er die zweite Teilung des Brettes und machte damit die Öffnung so groß, dass er weiter vordringen konnte. Berge von Tranfässern musste er übersteigen, bis er bei der Luke angekommen war. Dann entdeckte er, dass Tiger ihm gefolgt war. Da Augustus von nun an mit mehr Hindernissen rechnete, beschloss er, umzudrehen und am nächsten Abend weiterzumachen.
Ein wenig öffnete er die untere Luke, dass bei seiner Rückkehr alles schneller ging. Da sprang Tiger in die schmale Öffnung und schnüffelte eifrig. Seinem Winseln und kratzen nach, ahnte er, dass ich mich im Kielraum befand und Augustus hielt es für möglich, dass er bis zu mir durchdringen konnte.
Jetzt kam ihm die Idee mit dem Brief, da er Angst hatte, ich könnte einen selbstständigen Befreiungsversuch unternehmen. Er grübelte, wie er einen Brief zuwege bringen könnte. So wurde aus einem alten Zahnstocher eine Feder und als Papier diente ein alter Brief, den mein Freund einfach umdrehte. Er schnitt sich in den Finger, gerade über dem Nagel, wo reichlich Blut fließen würde. Dies benutzte er als Tinte und er schrieb, dass eine Meuterei stattgefunden habe und dass der Kapitän nicht mehr an Bord verweile, dass ich bald Lebensmittel bekommen würde und dass ich keinerlei Störung verursachen möge. Zum Schluss schrieb er: "Ich schrieb dir dies mit meinem Blut - wenn dir dein Leben lieb ist, bleib stillliegen."
Diesen Papierstreifen machte er an Tiger fest. Der sprang durch die Luke und Augustus bewegte sich wieder zurück in die Koje, wo er alle Spuren verwischte und sich selbst wieder fesselte. Kaum war er fertig, kam Dirk Peters wieder herunter, stark angetrunken, dennoch in bester Laune und bestückt mit einem Eimer Wasser und einem Dutzend gerösteter Kartoffeln.
Eine Weile saß er bei Augustus und erzählte über den Maat und die Zustände auf dem Grampus. Er benahm sich unstet, manchmal grotesk und verabschiedete sich mit der Ansage, morgen dem Gefangenen ein gutes Essen zu bringen.
Über den Tag verteilt kamen zwei Harpuniere und der Koch, alle drei vollständig betrunken. Sie schienen sich in ihren Zielen nicht unbedingt einig. Es gab zwei Parteien auf dem Schiff.
Die des Unterschiffers, der einen persönlichen Groll gegen Kapitän Barnard hegte. Dieser Gruppe gehörte auch Dirk Peters an, der gerne Kurs nach dem südlichen Teil des Stillen Ozeans beibehalten wollte und lieber dem Walfischfang nachginge.
Die Gruppierung um den Unterschiffer, der auch der Koch angehörte, wollte lieber das nächst beste Schiff besetzen und der Seeräuberei nachgehen.
Nach den ausschweifenden Beschreibungen Dirks, der sich über ungezügelte Freiheit und das üppige Leben auslies, war es wahrscheinlich, dass sein Vorschlag die Seeleute mehr beeindrucken würden.
Die schwatzhaften, trunkenen Männer verließen nach einer Stunde die Kajüte. Danach lag Augustus still bis zum Abend. Erst dann streifte er sich die Handschellen und den Strick ab und verfolgte sein Vorhaben weiter, indem er denselben Weg entlangkroch wie am Vorabend. Der üble Geruch und die stickige Luft ließen ihn befürchten, ich könnte in meinem Versteck womöglich nicht überlebt haben.
Da ich trotz mehrmaligen Rufens kein Lebenszeichen von mir gab, wurde seine Vermutung, ich sei tot, immer mehr zur Gewissheit. Trotzdem plagte er sich weiter den Weg zu meinem Koffer. Die Brigg stampfte heftig, sodass Augustus ein Schnarchen von mir gar nicht hätte ausmachen können in dem Lärm. Langsam keimte Verzweiflung in ihm auf und er stürzte sich weinend unter das Gerümpel. Die Nacht neigte sich bereits wieder ihrem Ende zu, aus diesem Grunde begab mein Freund sich mutlos auf den Rückweg.
Er glaubte schon, mich für immer verloren zu haben, da vernahm er das Klirren, das ich durch das Wegwerfen meiner Flasche hervorrief. Ja, auf diesem eigentlich unwichtigen Ereignis beruhte mein Schicksal. Dies habe ich allerdings erst viele Jahre später erkannt.
Augustus hörte deutlich den Krach der Flasche, war sich aber nicht sicher, woher dieser Laut gekommen war. Allein dieser Zweifel reichte aus, dass er seine Bemühungen fortsetzte. Er kletterte weiter. Als das Gestampfe der Brigg kurz nachließ, rief er laut. Es war ihm egal, ob man ihn ertappte. Der Ruf drang zu mir durch, aber wie man weiß, war ich vor Aufregung unfähig zu antworten.
Mein Freund glaubte, seine schlimmsten Befürchtungen seinen nun bestätigt und machte sich auf den Rückweg. Erst als mein Messer zu Boden fiel, wurde er stutzig. Er kehrte wieder um und rief in einer Pause des Sturmes laut meinen Namen. Diesmal konnte ich antworten und seine Freude darüber war übergroß. Nun entschloss er sich, jeder Schwierigkeit zum Trotz, den Durchgang zu mir zu finden. Völlig erschöpft erreichte er mein Versteck. Ich verweilte inzwischen elf Tage und Nächte hier.