Dem Südpol zu
- Autor: Poe, Edgar Allan
Wir segelten am 12. vom Weihnachtshafen ab und nahmen Kurs gen Süden, ohne auf Eisberge zu stoßen. Am Nachmittag des 26. hatten wir den 63 ° 23' südlicher Breite bei 41° 25' westlicher Länge erreicht, als wir einen - zum Glück nicht zu großen - Eisberg bemerkten. Der Wind trieb uns meist nach Südosten, war aber schwach. Die Regenschauer kamen meist mit dem Westwind zu uns; ansonsten begleitete uns nahezu täglich Schnee - mal mehr, mal weniger. Am 27. zeigte das Thermometer 35 Grad Fahrenheit.
Am 1. Januar 1828 sahen wir uns gänzlich von Eis umgeben. Unsere Position war trübe. Der starke Sturm trieb dicke Eisschollen derart heftig an unser Steuer und den hinteren Teil des Schiffs, dass wir um die Folgen fürchteten. Am Abend tobte der Sturm mit heftiger Wut; dennoch teilte sich vor uns eine schier unüberwindbare Eisscholle. So konnten wir endlich mit vollen Segeln hindurchdringen, bis ins offene Meer. Als wir der Gefahr entronnen waren, verlangsamten wir die Fahrt.
Der nächste Tag begann mit günstiger Witterung. Bereits mittags hatten wir den Polarkreis überschritten. Im Süden gab es wenig Eis, obwohl hinter uns große Eisfelder lagen. Wir bauten uns eine Sonde aus einem eisernen Topf, der zwanzig Gallonen trug und an einer langen Messschnur befestigt war. So entdeckten wir eine Strömung, die uns mit einer Geschwindigkeit von einer Viertelmeile pro Stunde nach Süden führte. Das Thermometer maß ungefähr 33 Grad Fahrenheit.
In der Weise setzten wir unsere Fahrt fort. Durchzogen von Eisinseln und auch großen Eisbergen, immer wieder einen Durchgang suchend und findend; begleitet von Schneefällen, Hagelschauern und bitterer Kälte. Doch immer wieder fanden wir einen Durchgang. Unmessbare Albatrosschwärme flogen von Südosten nach Nordwesten, direkt über uns hinweg.
Am 10. Januar ereilte uns ein Unglück. Einer unserer Männer rutschte aus, stürzte über Bord und verschwand zwischen zwei Eisschollen, um nie wieder aufzutauchen. Wir befanden uns auf dem 78° 30' südlicher Breite bei 40° 15' westlicher Länge. Es war empfindlich kalt und Hagel begleitete unsere Fahrt. Um uns befanden sich riesige Eisberge, die sich theatralisch vor uns auftürmten. Abends trieben Holzblöcke an uns vorüber, auf denen sich ein Vogelschwarm niedergelassen hatte. Unsere Magnetnadel schwankte weitaus weniger als vorher, nachdem wir den Polarkreis überschritten hatten.
Tagelang befanden wir uns inmitten von Eisflächen, die schier unüberwindbar schien. Verzweifelt suchten wir nach einem Durchgang. Am Morgen des 14. Januar erreichten wir dann das westliche Ende der Eisfläche, die unseren Weg versperrte. Wir fuhren an ihren Küsten entlang und gelangten so wieder aufs offene Meer, das völlig eisfrei war.
Mit unserer Sonde suchten wir abermals eine günstige Strömung und fuhren anschließend mit einer Geschwindigkeit von einer halben Meile pro Stunde nach Süden. Inzwischen maß die Lufttemperatur 47 ° und die Wassertemperatur 34°. So segelten wir hindernisfrei weiter bis zum 16. Januar. Dann befanden wir uns auf dem 81° 21' südlicher Breite bei 42° westlicher Länge. Die Strömung trieb uns inzwischen eine dreiviertel Meile in der Stunde nach Süden. Die Temperatur war mild geworden und wir entdeckten nicht eine Eisscholle. Wir waren uns sicher, dass wir den Pol erreichen würden.
Der 17. Januar war ereignisreich. Viele Vogelschwärme zogen über unsere Häupter in südliche Richtung. Um unser Mahl zu sichern, schossen wir einige ab. Darunter eine Art Pelikan, der hervorragend schmeckte. Gegen Mittag erblickte unsere Wache eine kleine Eisinsel mit einem großen Tier auf derselben. Weil das Wetter schön war, befahl Kapitän Guy, mit zwei Booten nachzusehen, was das sein könnte.
Bei näherem Hinsehen entdeckten wir den riesigen großen Bären, wie wir noch nie einen gesehen hatten. Da wir gut bewaffnet waren, griffen wir ihn gleich an. Mit mehreren Schüssen trafen wir ihn an Kopf und Rumpf. Doch der Bär verließ scheinbar unberührt seine Scholle und schwamm mit weit geöffnetem Rachen auf das Boot zu, in dem Peters und ich saßen. Allein Peters Geistesgegenwart hatten wir es zu verdanken, dass uns nichts passierte. Als der Bär sich auf unser Boot schieben wollte, sprang Peters der riesigen Bestie auf den Rücken und tötete ihn mit einem heftigen Stoß ins Genick. Das Tier fiel tot ins Meer zurück, mitsamt Peters. Glücklicherweise tauchte er bald wieder auf und wir konnten unsere Beute aufs Boot ziehen.
Der Bär hatte ein gelocktes weißes Fell und blutrote Augen, die größer schienen als die eines alltäglichen Eisbären; er glich einer Bulldogge. Trotzdem war sein Fleisch zart und obwohl es nach Fisch roch und ranzig war, verspeiste die Mannschaft es gierig und lobte die ausgezeichnete Mahlzeit.
Bald darauf entdeckte einer der Wächter Land! Natürlich standen alle Mann voller Erwartung da und weil glücklicherweise ein Nordostwind aufgekommen war, erreichten wir bald die Küste. Es handelte sich um eine flache felsige Insel von ungefähr einer Meile Umfang. Lediglich ein kleiner Dornbusch wuchs darauf und ein eigentümlicher Felsen stand da, der aussah wie ein verschnürter Baumwollballen. An der westlichen Küste legten wir an.
Die Insel war schnell durchsucht und wir fanden nichts Besonderes. Nur am südlichen Ufer gruben wir ein Stück Holz aus, das wohl einmal einem Schiff als Schnabel gedient hatte. Kapitän Guy meinte, es handle sich um einen Schildkrötenkopf. Dies war auf jeden Fall das einzige Zeichen menschlichen Lebens. Die genaue Lage der Insel befand sich auf dem 82° 50' südlicher Breite und dem 42° 20' westlicher Länge. Kapitän Guy nannte sie das Bennet-Eiland, zu Ehren des Miteigentümers seines Schoners.
Somit waren wir um 8 Grad weiter nach Süden vorgedrungen als all die Seefahrer vor uns. Das Meer lag offen und frei vor uns. Das Wasser veränderte sich hier nicht mehr und je weiter wir kamen, desto milder wurde das Klima. Der Himmel war ständig klar.
Die einzige Schwierigkeit war im Moment, dass wir zu wenig Proviant hatten und dass die Besatzung die ersten Anzeichen von Skorbut zeigte. Kapitän Guy überlegte öfters, ob er umkehren sollte. Ich war aber davon überzeugt, dass wir bald auf Land stoßen müssten. Ich überredete ihn eifrig, noch einige Tage in der Richtung weiterzufahren. Nie gab es eine günstigere Gelegenheit, das große Problem der Beschaffenheit der Polgegenden zu lösen. Rücksichtslos schob ich alle Bedenken aus dem Weg und ich glaube sicher, dass meine Hartnäckigkeit den Kapitän bewogen hatte, doch noch weiter vorzudringen.
Allerdings bedaure ich die traurigen und blutigen Folgen meiner Überredungskunst; gleichzeitig kann ich mir gratulieren, dass ich bis zu einem gewissen Punkt Anlass gegeben habe, diese Erforschungen zu machen. Immerhin wurde eines der reizvollsten Rätsel der Wissenschaft gelöst.