Das wilde Tier
- Autor: London, Jack
Bei diesem Leben wurde das Raubtier in Buck immer stärker, aber er zeigte das nicht nach außen. Streitigkeiten ging er nach Möglichkeit aus dem Weg, und keine unbesonnene Handlung ließ er sich zu Schulden kommen. Spitz aber versäumte keine Gelegenheit, ihm die Zähne zu zeigen. Er reizte ihn, wo er nur konnte.
Am Abend eines Tages hatten sie nur einen schlechten Platz an einem See finden können. Treibschnee und Wind hatten sie gezwungen, die Reise früher als gewöhnlich zu unterbrechen. Vor ihnen lagen die Eisfläche des Sees und hinter ihnen nur schroffe Felswände. Die beiden Männer mussten ihre Schlafsäcke auf dem blanken Eis ausbreiten. Da sie dort kein Feuer machen konnten, verzehrten sie das kärgliche Mahl im Dunklen.
Ganz nah am schützenden Felsen machte sich Buck sein Nest. Von Francois holte er sich ein Stück Fisch. Als er zurückkam, war seine Schlafstelle besetzt. Spitz hatte sich seinen Platz angeeignet und knurrte ihm entgegen. Mit einem Wutgeheul stürzte sich Buck auf Spitz. Sowohl Spitz als auch Francois waren über diesen Angriff erstaunt. Der Mann ergriff die Sachlage sofort und feuerte Buck an.
Spitz versuchte vergeblich an Buck heranzukommen. Knurrend und zähnefletschend standen sie einander gegenüber, als etwas Unvorhergesehenes geschah.
Ganz plötzlich wimmelte es im Lager von wüst aussehenden Kötern. Es war eine ganze Rotte, die wohl auf ihrem Streifzug auf das Lager gestoßen war. Perrault hatte sie bei der Vorratskiste bemerkt und war mit dem Knüppel dazwischen gesprungen. Das half aber nichts. Wie dicht die Knüppelhiebe auch auf sie fielen, wie sehr sie auch heulten, so ließen sie doch nicht von ihrer Beute ab, bis auch das letzte Krümelchen verzehrt war.
Inzwischen waren auch die bestürzten Schlittenhunde herangekommen, aber auch sie wurden sofort angegriffen. Drei Köter fielen über Buck her. Sie rissen ein Loch quer über seinen Rücken. Mutig kämpfte er mit den anderen Hunden weiter, als er plötzlich einen Biss an seinem Hals fühlte. Es war Spitz, der Verräter, der ihn von der Seite angriff. Schließlich suchten alle neun Hund Schutz im nahen Wald. Alle hatten Verletzungen erlitten.
Kaum dass der Tag zu dämmern begann, waren sie wieder am Lagerplatz, wo die beiden Männer sie erwarteten. Die Räuber waren fort und auch fast sämtliche Essvorräte. Die Schlittenriemen waren zerkaut ebenso wie Perraults Mokassins und sogar die Schnur von Francois' Peitsche.
Perrault schüttelte den Kopf. Er machte sich Gedanken darüber, ob die Köter Tollwut hatten. Noch vierhundert Meilen waren es bis Dawson. Was sollte er anfangen, wenn die Krankheit bei seinen Tieren ausbrach? Die Männer besserten die Riemen aus und schirrten die Hunde an. Aber das schwerste Stück des Weges lag noch vor ihnen.
Sechs Tage lang fuhren sie am Ufer eines Flusses dahin, dessen Wasser nicht gefror, weil es zu schnell floss. Jeder Schritt brachte Lebensgefahr für Menschen und Hunde. Mehrmals brach Perrault, der voran lief, ein. Das bedeutete immer ein eisiges Bad, denn das Thermometer zeigte fünfzig Grad unter Null. Deshalb musste jedes Mal Rast gemacht und ein Feuer angezündet werden, denn es wäre sein Tod gewesen, hätte er nicht sofort die erstarrten Glieder erwärmt und die steif gefrorenen Kleider aufgetaut und getrocknet.
Perrault aber verlor nicht den Mut. Tapfer kämpfte er vom Morgen bis zum Abend. Deshalb hatte ihn die Regierung zum Boten für die wichtigsten Meldungen erwählt.
Einmal brach auch der Schlitten ein und zog Buck und einen anderen Hund mit sich. Halb erfroren und fast ertrunken wurden sie herausgezogen, und auch für sie wurde ein Feuer angemacht. Immer wieder gerieten Menschen und Hunde in gefährliche Situationen und kamen dadurch nur sehr langsam voran, an einem Tag gar nur eine Viertelmeile.
Alle Hunde waren mit ihren Kräften fast am Ende. Aber Perrault, der die verlorene Zeit wieder einholen wollte, trieb sie von früh bis spät vorwärts. Bucks Füße waren nicht so hart und widerstandsfähig wie die der Nordlandhunde. Er konnte vor Schmerzen kaum auftreten, und abends fiel er wie tot hin. Selbst der Hunger konnte ihn nicht mehr dazu bringen aufzustehen und sein Fleisch zu holen. Francois musste es ihm bringen.
Jeden Abend rieb einer der Männer eine halbe Stunde lang Bucks Füße, und Perrault hatte ihm von einem seiner Mokassins vier kleine Schuhe gemacht. Das war eine sehr große Erleichterung für den Hund.
Eines Morgens hatte Francois vergessen, Buck die Schuhe anzuziehen. Da kam Buck zu ihm, legte sich auf den Rücken und streckte bittend seine vier Pfoten in die Höhe. Da musste sogar der ernste Perrault lächeln.
Eines Tages nutzte Spitz eine günstige Gelegenheit und schlug seine Zähne tief in Bucks Fleisch und riss es an einer Schulter bis auf den Knochen auf. Damit war der Krieg zwischen den beiden Hunden offen ausgebrochen. Spitz mochte Buck nicht leiden, weil er der erste Südstaatenhund war, der ausgehalten hatte und den Nordlandhunden gleich an Ausdauer, Stärke und Schlauheit war Und noch etwas anderes kam hinzu: Spitz fühlte, dass es Bucks Ehrgeiz war, Leithund zu werden, aber das war er, Spitz!
Zum Glück ging die Fahrt ihrem Ende entgegen, Dawson war nicht mehr weit. Das war höchste Zeit, denn das Verhältnis zwischen Spitz und Buck wurde immer gespannter, was sich auch auf die anderen Hunde übertrug. Fortgesetzt gab es Beißereien und Zänkereien. Francois hatte alle Hände voll zu tun, um den Frieden aufrecht zu erhalten. Aber er wusste, dass er das irgendwann nicht mehr schaffen würde.
Endlich, an einem grauen, stürmischen Nachmittag fuhren sie in Dawson ein. Viele Menschen gab es da und unzählige Hunde, und alle waren bei der Arbeit. Es schien ganz selbstverständlich zu sein, dass Hunde hier die Arbeit taten, die anderswo Pferde leisteten. Sie zogen Bauholz, Erz und Steine die Straßen entlang.
Buck traf hier auch einige Südstaatenhunde, aber die meisten waren hier vom Stamm der Eskimohunde. Jede Nacht um neun, zwölf und drei Uhr fingen sie ein betäubendes Geheul an, und es war Bucks größtes Vergnügen, darin einzustimmen.
Sieben Tage nach ihrer Ankunft verließen sie Dawson wieder in Richtung Dyea, zum Meeresstrand. Perrault hatte wieder sehr wichtige Depeschen bei sich. Ihn hatte der Ehrgeiz ergriffen, die Rückreise noch schneller als die Hinreise zu bewältigen. Er wollte den Rekord des Jahres aufstellen.
Die äußeren Umstände waren günstig. Die Woche Rast hatte die Hunde wieder in vorzügliche Form gebracht. Da wenig Neuschnee gefallen war, konnten sie ihre Schlittenspur wieder benutzen. Allerdings hatte Francois seine Not mit dem Gespann. Spitz hatte bei den Hunden keinen Einfluss mehr. Aufsässigkeit war überall. Francois' Peitsche sauste fortwährend durch die Luft, aber ohne Erfolg. Er wusste wohl, dass alles Bucks Schuld war, aber er konnte ihm nichts anhaben, da er ihn nie auf frischer Tat ertappte. Buck zog nach wie vor fleißig den Schlitten, denn die Arbeit machte ihm Freude, aber noch mehr freute es ihn, wenn er hinterlistig einen Streit anzetteln konnte.
Eines Abends tauchte ein Schneehase auf. Die Hunde des Gespanns und andere, die sich noch in der Nähe befanden, setzten ihm mit wildem Geschrei und Geheul nach, ihr Jagdfieber war erwacht. Buck und Spitz waren die schnellsten, aber Spitz hatte den Vorteil, dass er die Gegend schon kannte und so vor Buck den Hasen erreichte. Dieser hatte aber schon in Gedanken seine Zähne in das weiche Fell des Tieres geschlagen und das warme Blut gespürt. Dass Spitz nun dafür sorgen würde, dass das nur ein Traum blieb, war zu viel für Buck. Er konnte sich nicht mehr beherrschen. Wie ein Wahnsinniger sprang er auf Spitz los.
Beide fielen in den Schnee. Spitz war der Erste, der wieder auf die Füße kam. Ein Biss seiner scharfen Zähne riss Bucks Schulter auf.
Buck kam blitzschnell zu der Überzeugung, dass es jetzt um Leben und Tod ging. Zähne fletschend und knurrend, mit zurückgelegten Ohren, gesträubtem Rückenhaar und blitzenden Augen gingen sie umeinander herum. Wer würde den nächsten Sprung tun? Kein Auge ließen sie voneinander. Inzwischen standen die anderen Hunde im Kreis um sie herum.
Immer wieder gingen die Beiden aufeinander los, aber keiner konnte den anderen richtig packen. Jetzt galt nur noch List. Mit gewaltigem Anlauf sprang Buck wieder gegen den weißen Hund. Ein Krachen von brechenden Knochen, ein grässlicher Schrei - und Spitz hatte nur noch drei gesunde Pfoten. Doch noch immer stand er fest genug darauf, um von einem weiteren Angriff nicht zum Straucheln gebracht zu werden.
Schließlich gelang es Buck noch einmal, an die Pfoten seines Gegners zu kommen. Der Kreis der Hunde wurde immer kleiner. Spitz wusste, was das zu bedeuten hatte. Es gab keine Hoffnung mehr für ihn. Er fühlte den Atem der Köter und hörte das Hecheln rund um sich herum.
Buck sprang noch einmal von der Seite auf sein Opfer zu, und diesmal konnte Spitz ihm weder ausweichen noch Widerstand leisten. Als sich die anderen Hunde auf Spitz stürzten, zog sich Buck zurück. Das wilde Tier in ihm war zufrieden. Er hatte die Schlacht gewonnen.