Das geheimnisvolle Schiff
- Autor: Poe, Edgar Allan
Bald darauf kam es zu einem Zwischenfall, der in mir tiefe Erregung, äußerstes Entzücken und gleichzeitig grauenvolles Entsetzen auslöste. Aufgrund dieses Vorfalls wurde ich noch Jahre später von albtraumhaften Vorstellungen heimgesucht.
Wir lagen bei der Kajütentreppe auf Deck und beurteilten die verschiedenen Möglichkeiten, an Essen und Trinken zu gelangen. Augustus war blass und seine Lippen bebten; als ich ihn ansprach, gab er keine Antwort. Ich glaubte schon, er sei geistig weggetreten, als ich erkannte, dass seine Augen einen Punkt fixierten, der hinter mir lag. Ich drehte mich um.
Niemals werde ich die Glückseligkeit vergessen, die meinen Körper durchfuhr, als ich dieses Schiff erblickte. Wenige Seemeilen von uns entfernt segelte es auf uns zu. Ich sprang auf und streckte sprachlos meine Arme in Richtung des Schiffes aus. Peters und Parker waren ebenso ergriffen, jeder auf seine Art. Der eine tanzte wie wild auf dem Deck herum, der andere brach in Tränen aus wie ein Kleinkind.
Es handelte sich um eine niederländische Zwitterbrigg, schwarz bemalt, mit pompös vergoldeter Bugverzierung. Auch sie musste in den Sturm geraten sein, denn ihr Fockmast fehlte und sie war am Steuerbord recht beschädigt. Die Brigg kam nur langsam vorwärts; sie hatte wenige Segel gesetzt. Unsere Ungeduld wuchs ins Unermessliche.
Trotzdem erkannten wir die ungeschickte Manövriertaktik des fremden Schiffes. Es schien, als wäre der Kapitän volltrunken. Eine Zeitlang meinten wir, sie hätten uns gar nicht gesehen und schrien mit all unserer Lungenkraft. Daraufhin schien es, dass das Schiff auf uns zuhielt. Ein paarmal änderte die Brigg noch ihre Richtung, was unseren Eindruck verstärkte, dass mit dem Kapitän etwas nicht stimmen konnte.
Erst als das Schiff eine Viertelmeile von uns entfernt war, erblickten wir drei Seeleute. Ihrer Tracht nach handelte es sich um Holländer. Sie schienen uns mit Neugier zu betrachten. Über Steuerbord gelehnt stand ein großer, dicker Mensch von dunkler Hautfarbe. Er nickte uns auf lustige, aber wunderliche Weise zu und lachte unentwegt. Es hörte nicht einmal auf, als seine rote Flanellmütze ins Meer flog. Selbst da nickte er uns weiterhin zu und lächelte.
Langsam aber stetig näherte sich die Brigg. Unsere Herzen strömten über vor Freude, wir dankten Gott, weil wir so völlig unerwartet Rettung erhielten. Jedoch wehte mit einem Mal eine Brise über das Wasser von dem fremden Schiff her. Ein Gestank, der so atemberaubend unerträglich war, dass ich fast erstickte. Ich sah nach meinen Gefährten und erkannte, dass es ihnen gleich erging. Doch blieb jetzt keine Zeit für weitere Fragen. Die Brigg war nur noch fünfzig Fuß entfernt und sie kam in der Absicht auf uns zu, uns ohne ein Boot an Bord nehmen zu können.
Wir stürzten nach vorn, als eine starke Welle die Brigg zur Seite drehte. Sie glitt daraufhin ungefähr zwanzig Fuß vor uns vorüber, sodass wir ihr Deck überschauen konnten. Diesen entsetzlichen Anblick werde ich nie wieder vergessen. Fünfundzwanzig oder dreißig menschliche Körper lagen da, im übelsten Zustand der Verwesung. Auf diesem unseligen Schiff war keine Seele mehr am Leben. Trotzdem konnten wir uns nicht zurückhalten, flehten selbst die Toten um Hilfe an. Ja, laut flehten wir diese ekligen, schweigenden Körper an, sie möchten uns nicht im Stich lassen! Die Qual dieser Enttäuschung machte uns fast wahnsinnig.
Als unser erstes Geschrei laut losbrach, schien es, als ob vom Schiff her ein Ruf antwortete, ähnlich einer Menschenstimme. In dem Moment fiel das fremde Schiff noch einmal ab und gewährte uns einen Blick auf die Gegend des Vorderkastells. Immer noch lehnte die dunkle Gestalt an dem Mast, die Arme hingen über die Reling herab, die Knie fingen sich in einem starken Tau. Auf dem Rücken des Mannes war ein Teil des Hemdes aufgerissen und eine riesige Seemöve nahm an dem scheußlichen Fleisch ihr Mahl; den Schnabel weit ins Fleisch gerammt, das Gefieder mit Blut bespritzt.
Ein Stück Fleisch nahm der Vogel mit auf seine Reise, flog gerade über unser Verdeck, schwebte mit diesem Stück blutiger Substanz im Schnabel. Der grauslige Bissen plumpste plötzlich unmittelbar vor Parkers Füße. Ich kann nur hoffen, dass Gott es mir verzeihe, aber zum ersten Mal nahm ein Gedanke Besitz von meinem Gehirn, ein Gedanke, den ich nicht aufschreiben will, und ich tat einen Schritt auf den blutigen Bissen zu. Erst als ich aufblickte, direkt in Augustus Gesicht, erkannte ich die abscheuliche Bedeutung, die mir zugleich meine Besinnung wiedergab. Ich sprang vor und schleuderte den widerlichen Gegenstand ins Meer.
Allein die Bewegung der Seemöwe an dem Toten ließ denselben hin und her schaukeln, dass wir glauben mussten, er wäre noch lebendig. Als die Möwe von ihm ablies, fiel er halb über Bord und wir konnten sein zerrupftes, zerstörtes Antlitz erkennen. Noch nie zuvor habe ich so etwas Fürchterliches gesehen!
Die Brigg zog mit der Brise weiter und mit ihr all unsere Träume einer Erlösung. Wir hatten zugesehen, empfunden, aber waren nicht in der Lage zu handeln. Wie sehr dieses unfassbare Ereignis unsere Denkfähigkeit beeinflusst hat, kann man aus der Tatsache folgern, dass wir - als die Brigg ziemlich weit weg war - allen Ernstes den Vorschlag erwogen, sie durch Schwimmen doch noch einzuholen.
Seitdem habe ich vergeblich nach dem Geheimnis um das grauenhafte Schicksal dieses Schiffes gesucht. Wir hätten mühelos den Namen lesen können, jedoch hinderte die tiefgehende Erregung uns alle Sinne. Aus der safrangelben Farbe der Leichen schlossen wir, dass sie an einer Erkrankung gestorben sein mussten. Vielleicht das Gelbfieber oder eine andere giftige Krankheit. Es ist jedoch völlig unnütz, Mutmaßungen über dieses dunkle, erschreckende Geheimnis anzustellen.