Besuch bei Mister Rankeillor
- Autor: Stevenson, Robert Louis
Noch vor Sonnenaufgang machte ich mich auf den Weg nach Queensferry. Alan blieb in einem Versteck.
Die Stadt war schön, und ich kam mir in meiner zerlumpten Kleidung fehl am Platz vor. Im Laufe des Morgens wurde ich von Minute zu Minute immer unruhiger und unsicherer. Ich wusste, dass ich keine eindeutigen Beweise für mein Recht hatte, noch nicht einmal einen Nachweis über meine Person. Würde ich überhaupt zu meinem Recht kommen und wie lange könnte das dauern? Drei Schillinge hatte ich in der Tasche und wollte damit auch noch meinem verurteilten, gehetzten Freund zur Flucht mit einem Schiff aus dem Land verhelfen.
Unschlüssig lief ich durch die Straßen. Mich ergriff eine neue Besorgnis: Vielleicht war es gar nicht so einfach, überhaupt eine Unterredung mit einem Anwalt zu erreichen und ihn noch dazu von der Wahrheit meiner Geschichte zu überzeugen. Immer wieder überfielen mich Wellen von Hoffnungslosigkeit.
Als ich vom Herumlaufen schon sehr müde war, blieb ich vor einem stattlichen Haus mit schönen, hellen Glasfenstern und blühenden Blumentöpfen stehen. Da ging die Tür auf, und ein Mann trat heraus. Er trug eine gepuderte Perücke sowie eine blitzende Brille und sah klug und freundlich aus. Er betrachtete mich und war betroffen von meiner armseligen Erscheinung. Er trat auf mich zu und fragte, was ich hier treibe.
Ich sei in Geschäften nach Queensferry gekommen, antwortete ich. Dann fasste ich mir ein Herz und bat ihn, mir den Weg zum Haus von Mister Rankeillor zu zeigen.
"So was!", sagte er. "Das ist sein Haus, und ich bin selbst der Mann, den du suchst!"
"Dann, Sir, möchte ich Euch um eine Unterredung bitten."
"Ich weiß Euren Namen nicht", erwiderte er, "und auch Euer Gesicht ist mir fremd."
"Mein Name ist David Balfour", sagte ich.
"David Belfour?", wiederholte er mit lauter Stimme, als sei er außerordentlich überrascht. "Und wo kommt Ihr her, Mister David Balfour?", fragte er dann, indem er mir ziemlich scharf ins Gesicht sah.
"Ich komme von vielen sonderbaren Orten her", erwiderte ich. "Es wäre mir angenehmer, Euch alles in einem geschlossenen Raum zu berichten."
Er schien zu überlegen und sagte schließlich: "Ja, das wird das Beste sein", und er führte mich in sein Haus. Er rief jemandem, den ich nicht sehen konnte, zu, dass er den ganzen Vormittag beschäftigt sein würde und brachte mich in ein kleines, sauberes Zimmer voll von Büchern und Papieren.Hier setzte er sich nieder und bat auch mich Platz zu nehmen. "Und nun", sagte er, "wenn Ihr ein Anliegen habt, so sprecht bitte kurz und kommt rasch zur Sache."
Mir stieg das Blut ins Gesicht, als ich erklärte: "Ich habe Grund zu der Annahme, dass mir gewisse Rechte auf das Gut Shaws zustehen."
Jetzt nahm er ein Heft aus seiner Schublade und legte es offen vor sich hin.
"Ja? Nun, Mister Balfour? Weiter!", ermunterte er mich. "Ihr müsst mir alles erzählen. Wo seid Ihr geboren?"
"In Essendean, Sir", versetzte ich, "im Jahre 1733, am 12. März."
Es war, als verfolgte er diese Erklärung in seinem Heft; aber was das bedeuten mochte, wusste ich nicht. "Euer Vater und Eure Mutter?", fragte er dann.
"Mein Vater war Alexander Balfour, Schullehrer in Essendean, meine Mutter Grace Pitarrow."
"Habt Ihr irgendwelche Papiere, um Euch auszuweisen?", erkundigte sich Mister Rankeillor.
"Nein", gab ich zurück, "aber sie sind in den Händen von Mister Campbell, dem Pfarrer, und können rasch herbeigeschafft werden. Auch würde Mister Campbell sein Wort für mich verpfänden; übrigens glaube ich nicht, dass mein Oheim mich verleugnen würde."
"Ihr meint Mister Ebenezer Balfour?", fragte er.
"Ebendiesen!"
"Habt Ihr ihn gesehen?", fragte er weiter.
"Er hat mich in sein Haus aufgenommen.", antwortete ich.
"Seid Ihr jemals einem Mann namens Hoseason begegnet?", lautete seine nächste Frage.
"Allerdings, zu meinem Schaden!", entgegnete ich. "Durch ihn und unter Mithilfe meines Oheims bin ich in dieser Stadt eingefangen, meiner Freiheit beraubt und auf See hinaus geschleppt worden. Dort habe ich Schiffbruch erlitten und viele andere schlimme Erlebnisse gehabt. So stehe ich heute vor Euch in diesem elenden Aufzug."
"Ihr sagt, dass Ihr Schiffbruch erlitten habt", bemerkte Rankeillor, "wo ist das gewesen?"
"Am Südende der Insel Mull", versetzte ich.
Er meinte lächelnd: "Ich darf Euch jetzt schon sagen, dass dies alles recht genau mit anderen Mitteilungen übereinstimmt, die mir zugegangen sind. Doch Ihr habt gesagt, dass Ihr eingefangen wurdet - wie meint Ihr das?"
"Ich meine es genau, wie ich es sage, Sir", antwortete ich. "Ich war auf dem Weg zu Eurem Haus, da wurde ich an Bord der Brigg gelockt, hart niedergeschlagen, unter Deck geschleppt, und dann weiß ich nur noch, dass wir weit draußen auf See waren. Ich sollte auf die Plantagen, aber diesem Schicksal bin ich entronnen."
"Die Brigg ist am 27. Juni untergegangen", sagte er, in sein Heft blickend, "und heute haben wir den 24. August. Das ergibt eine beträchtliche Zeitlücke, Mister Balfour, annähernd zwei Monate. Das hat Eure Freunde schon reichlich beunruhigt, und auch ich muss sagen: Ich werde erst zufrieden sein, wenn ich weiß, was in dieser Zeit geschehen ist."
Ich sagte ihm, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich ihm alles erzählen könne, da ja mein Oheim sein Auftraggeber sei, und ich durch meine Vertrauensseligkeit schon viel Schweres durchmachen musste.
Darauf sagte er: "Seit Ihr unterwegs gewesen seid, ist viel passiert. An genau demselben Tag, als Ihr auf See Schiffbruch erlitten habt, kam Mister Campbell in meine Kanzlei und verlangte, ich müsse Euch unbedingt suchen. Ich hatte niemals von Euch gehört, aber ich hatte Euren Vater gekannt. Wegen gewisser Dinge, von denen ich später berichten werde, war ich geneigt, das Schlimmste zu befürchten.
Mister Ebenezar gab zu, Euch gesehen zu haben. Er erklärte - was mir unwahrscheinlich erschien, er habe Euch beträchtliche Gelder gegeben und Ihr seid auf das Festland gefahren, um Eure Bildung zu vervollkommnen. Ich fragte ihn, warum Ihr in diesem Fall keine Nachricht an Mister Campbell geschickt habt. Er erklärte, dass Ihr mit Eurer Vergangenheit abschließen wolltet. Als er dann gefragt wurde, wo Ihr jetzt seid, gab er vor, dies nicht zu wissen.
Scheinbar hatten ihm meine Fragen nicht gefallen, denn er beendete meine Arbeit für ihn.
Mister Campbell und ich hegten Verdacht, aber wir hatten nicht den Schatten eines Beweises.
Doch dann meldete sich Kapitän Hoseason bei mir in dieser Angelegenheit und berichtete von Eurem Untergang. Damit schien alles zu Ende. Mister Campbell war sehr traurig darüber und weinte bittere Tränen."
"Sir", begann ich, "wenn ich Euch meine Geschichte erzählen soll, so bin ich gezwungen, das Leben eines Freundes Eurer Verschwiegenheit anzuvertrauen. Gebt mir Euer Wort, dass ihm nichts geschieht!"
In tiefem Ernst gab er mir sein Wort, sagte aber, dass er über meine Rede ziemlich beunruhigt ist. Ich solle bei meinen Erzählungen daran denken, dass er Anwalt ist und auf das Recht achten muss.
Nun berichtete ich ihm von Anfang an von meinen Erlebnissen. Er hörte zu, die Brille hochgeschoben, die Augen geschlossen, so dass ich manchmal dachte, er sei eingeschlafen. Doch davon konnte keine Rede sein! Er erfasste jedes Wort und prägte es sich ein, wie ich später merken sollte. Als ich jedoch Alan Brecks Namen aussprach, gab es einen bemerkenswerten Auftritt. Dieser Name hatte natürlich mit der Nachricht von dem Mord in Appin und von der ausgesetzten Belohnung die Runde durch ganz Schottland gemacht. Der Name war meinem Munde kaum entschlüpft, als auch schon der Anwalt von seinem Stuhl hochfuhr.
"Ich würde an Eurer Stelle nicht unnötigerweise Namen nennen, Mister Balfour", sagte er, "vor allem nicht von Hochländern, von denen so viele mit dem Gesetz auf schlechtem Fuß stehen."
"Ja, ich hätte den Namen wohl besser nicht erwähnen sollen", erwiderte ich, "aber nun ist er mir entschlüpft, und da kann ich ihn wohl auch weiter gebrauchen."
"Keineswegs!", erklärte Mister Rankeillor, "ich höre ein wenig schwer und habe ihn wohl gar nicht richtig verstanden. Wenn es Euch recht ist, wollen wir Euren Freund Mister Thomson' nennen. So sollt Ihr es auch mit allen anderen Hochländern halten, von denen Ihr sprechen werdet."
Aus diesen Worten merkte ich, dass er den Namen nur allzu gut verstanden haben musste. Offensichtlich erriet er, dass ich auf den Mord zu sprechen kommen würde. Ich lächelte und stimmte ihm zu.
Im weiteren Verlauf meiner Geschichte nannte ich Alan Mister Thomson'. Jakob Stuart erwähnte ich in ähnlicher Weise nur als einen Verwandten von Mister Thomson, und auch allen anderen, mit denen wir zusammen getroffen waren, gab ich neue Namen. Ich wunderte mich, dass der Anwalt auf dieses Spiel bestand, akzeptierte es aber.
"Tja", sagte der Anwalt, als ich meinen Bericht beendet hatte, "Euer Leben ist ja wie ein Roman. Ihr müsst Eure Erlebnisse aufschreiben! Ihr seid viel hin und her geworfen worden und seid dabei immer wieder in schlimme Lagen geraten, in denen Ihr Euch aber stets ausgezeichnet verhalten habt. Dieser Mister Thomson scheint ja ein ganz besonderer Gentleman zu sein, wenn auch ein bisschen blutdürstig. Dennoch wäre es mir lieb, wenn er bald seine Reise auf einem Schiff antreten würde. Er war Euer treuer Gefährte, aber nun sind diese Tage vorüber."
Wir sprachen noch weiter über meine Abenteuer, und er sah mich dabei mit so viel Heiterkeit und Wohlwollen an, dass es eine Freude für mich war. Ich war so lange unter Verfolgten und Feinden gewesen, hatte so lange mein Bett unter dem freien Himmel gehabt, dass mir unser Gespräch in einem schönen Haus, mit einem Gentleman in anständiger Kleidung wie ein großes Glück vorkam.
Bei diesen Gedanken fiel mein Blick wieder auf meine unmöglichen Kleiderlumpen. Der Anwalt bemerkte das und erhob sich. An der Treppe rief er jemandem zu, er solle ein weiteres Gedeck auflegen, da Mister Balfour zum Essen bleiben werde. Dann führte er mich in ein Schlafzimmer im oberen Stockwerk. Hier gab er mir Wasser, Seife, einen Kamm, legte einige Kleidungsstücke vor mich hin, die seinem Sohn gehörten und gab mir Zeit, mich zu erfrischen.