Baldurs Tod
- Autor: Autor Unbekannt
Odin und Frigga hatten einen Sohn, dem sie den Namen Baldur gegeben hatten. Er war der schönste, edelste und netteste Gott, den man sich nur vorstellen konnte. Der Jüngling, der Gott des Lichts und des Frühlings war, wurden von allen Asen ganz besonders geliebt und geschätzt.
Doch eines Tages hatte seine Mutter einen fürchterlichen Traum. Sie träumte, dass ihr Sohn bald sterben müsse. Er würde von der Göttin Hel in deren Reich, also ins Totenreich entführt werden!
Merkwürdig war nur, dass auch Baldur in dieser Nacht einen solchen Traum hatte und sein junges Leben bedroht sah. Nein, sterben wollte der Sohn der Götter noch lange nicht. Zu sehr liebte er das Leben.
Da rief Odin, Baldurs Vater, Wala zu sich. Die gehörte zur Sippe der Hel und verfügte über die Fähigkeit, in die Zukunft sehen zu können. Doch wie erschrocken war Odin, als auch die Seherin ihm mitteilte, dass sein geliebter Sohn schon in jungen Jahren sterben müsse. Doch Wala wusste noch mehr. Sie wusste sogar, dass Baldurs blinder Bruder Hödur für seinen Tod verantwortlich sein würde.
Nun war guter Rat teuer. Also setzten sich die Asen und die Göttinnen zusammen an einen Tisch und beratschlagten darüber, was zu tun sei. Und sie kamen dazu, dass alle Geschöpfe des Himmels und der Erde einen Schwur leisten mussten, Baldur niemals im Leben etwas antun oder ihn gar töten zu wollen. Und so geschah es.
Egal wer einen Speer oder Pfeil auf den Sohn von Odin und Frigga warf, er blieb unverletzt. Bald schon hatte es sich zu einem richtigen Volkssport entwickelt, den jungen Gott auf diese Weise zu traktieren. Immer aber blieb Baldur unverletzt.
Alles wäre wahrscheinlich auf lange Zeit gut gegangen, wäre da nicht Loki gewesen, jener verschlagene Gott, der stets etwas Böses und Verschlagenes im Sinn führte. Eines Tages nämlich ging er verkleidet als arme Bettlerin zu Frigga und entlockte ihr ein wohl gehütetes Geheimnis: Nur ein einziges Lebewesen, der Mistelstrauch nämlich, könne Baldur Schaden zufügen, verriet die Göttin ihm. Als nämlich alle Lebewesen des Himmels und der Erde den Schwur abgelegt hatten, Baldur kein Leid antun zu wollen, hatte man den Mistelstrauch nicht schwören lassen, weil man ihn für viel zu zart und unbedeutend hielt.
Dieses Wissen um Baldurs Verletzlichkeit machte sich nun Loki zu eigen. Er eilte zur alten Eiche und schnitt dort ein kleines Zweiglein des Mistelstrauches ab. Mit dem lief er zu Baldur und forderte ihn auf, sich am Treiben um seinen Bruder Baldur zu beteiligen.
Wie soll ich das machen?, fragte Hödur. Ich bin blind und mein Pfeil würde ihn schon aus diesem Grund niemals treffen! Doch Loki wusste Rat. Spanne du den Boden, ich lege den Pfeil ein und führe dir die Hand, antwortete er listig.
Und so geschah das Unglaubliche, mit dem niemand gerechnet hatte. Hödur schoss den Pfeil ab, der seinen Bruder tödlich verletzte. So hatte sich auf grausame Art und Weise die Weissagung von Wala, der Seherin, erfüllt.
Hödur wurde übrigens für seine Tat nicht bestraft, denn Odin hatte verkünden lassen, dass sein blinder Sohn nur das für Baldur vorbestimmte Schicksal erfüllt habe.
In ganz Asgard aber herrschte große Trauer. Alle hatten Baldur geliebt, deshalb war sein Tod nun wirklich ein großer Verlust. Baldur selbst, so hatte man beschlossen, sollte auf seinem Schiff bestattet werden, auf dem man einen großen Scheiterhaufen errichteten ließ. Als man den Leichnam nun oben auf den Scheiterhaufen legte, geschah eine weitere Tragödie: Nanna, Baldurs Frau, brach vor lauter Gram und Trauer um den Tod des geliebten Mannes das Herz. Sie starb noch an Ort und Stelle und so wurde auch ihr Leichnam schließlich auf den Scheiterhaufen für die letzte Reise gebettet.
Odin flüsterte seinem toten Sohn noch ein paar Worte ins Ohr ehe Thor den Scheiterhaufen entzündete. Und weil der kleine Zwerg Lit dem großen Thor dabei in die Quere kam, gab er diesem gleich noch einen Tritt und Lit verbrannte mit Baldur und Nanna im großen Feuer.
Die Riesen, die ebenfalls zu Baldurs Beerdigung gekommen waren, gaben dem Schiff schließlich einen derben Stoß, so dass es von seinem Liegeplatz im Hafen aufs offene Meer getrieben wurde. Die Flammen loderten immer höher und ergriffen schließlich das ganze Schiff, das wie eine Opferfackel über das Meer segelte. Dem ganzen Spektakel machte schließlich eine große Flutwelle ein Ende sie zog das Schiff auf den Grund des Meeres.
Doch auch nach diesem Zeremoniell war Baldur längst nicht vergessen. Besonders seine Mutter Frigga litt unter dem Tod des geliebten Sohnes. Sie wollte einfach nicht glauben, den Sohn für immer verloren zu haben, und hoffte, das Herz Hels erweichen zu können.
Schließlich entschloss sich Hermodur, der Götterbote, den Ritt ins Totenreich zu wagen. Er wollte seinen Bruder befreien und ihn zurück ins Reich der Lebenden geleiten. Odin gab seinem Sohn das Pferd Sleipnir mit, denn dieses, so sagte er, kenne den Weg ins Totenreich sehr gut und könne Hermodur ein treuer Begleiter sein.
Neun Nächte ritt Hermodur, bis er die Brücke, die hinab ins Reich von Hel führte, erreichte. Kühn wagte der Götterbote auch den letzten Schritt und schon bald entdeckte er im Totenreich seinen Bruder Baldur und dessen Frau Nanna, die beide einwenig blass und müde aussahen. Hermodur tröstete den Bruder und seine Schwägerin und berichtete beiden von seiner Mission.
Doch so sehr er schließlich auch auf Hel einredete, sie wollte die Toten nicht aus ihrem Reich entlassen. Wer einmal gestorben ist, der bleibt für immer bei mir, warf sie dem Boten entgegen. Eisig funkelten dabei ihre Augen. Doch dann lenkte sie schließlich ein: Gut, so sagte Hel, ich will Baldur aus dem Reich des Todes entlassen, wenn alle Geschöpfte des Himmels und der Erde, die lebenden und die toten, ihn gemeinsam beweinen. Ist aber nur ein einziges Geschöpft darunter, das keine Tränen vergießt, so bleibt er für immer bei mir.
Mit dieser frohen Botschaft verließ Hermodur das Reich der Toten. Baldur und Nanna gaben ihm noch Geschenke für Odin und Frigga mit auf den Weg und eigentlich waren alle davon überzeugt, sich bald in einem neuen Leben wieder zu sehen.
Auch Baldurs Mutter Frigga freute sich sehr, als Hermodur ihr die Botschaft Hels überbrachte. Sofort sandte sie Boten in alle Welt, um Lebende und Tote dazu aufzufordern, um den geliebten Sohn zu weinen. Und wirklich, alle nahmen Anteil an dem grausamen Schicksal, das den Göttersohn ereilt hatte. Sogar die Steine ließen sich zu Tränen erweichen.
Nur ein einziges Wesen, eine grimmige Riesin namens Thögg, verweigerte Frigga die Gefolgschaft. Sie vergoss um Baldur keine einzige Träne und so war das Schicksal des jungen Gottes ein für alle Mal besiegelt. Er musste bei Hel im Reich des Todes bleiben.
Unterdessen fragte man sich bei den Asen natürlich, wo denn Loki geblieben war, jener Verräter, der sie für den Tod Baldurs verantwortlich machten. Der hatte sich nämlich nach dem Tod des jungen Gottes nach Riesenheim geflüchtet und sich dort versteckt, weil er nun doch den Zorn der Götter fürchtete.
Die Götter aber konnten den Mörder und Verräter ausfindig machen. Doch als sie sich seinem Haus in Riesenheim näherten, das in alle Himmelsrichtungen je ein Fenster hatte, da machte sich der verschlagene Bursche schnell aus dem Staub. Und weil er wusste, dass er seinen Verfolgern nur in einer anderen Gestalt entkommen konnte, verwandelte er sich in einen Lachs und verbarg sich unter dem nahe gelegenen Wasserfall. Zuvor jedoch hatte er ein Fischernetz, das er gefertigt hatte, um zu erproben, ob er damit gefangen werden könnte, ins Feuer geworfen.
Genau diese Tat wurde Loki nun zum Verhängnis. Denn als die Götter zu Lokis Haus kamen, sahen sie die Reste des noch nicht ganz verbrannten Fischernetzes im Feuer liegen und wussten sogleich, wo sie Loki suchen mussten. Und fingen ihn schließlich mit dem Netz ein, das er selbst geknüpft hatte!
Die Strafe, die ihn nun erwartete, war ebenso schrecklich wie die Tat, die er begangen hatte. Die Götter brachten Loki auf eine Insel im Reiche der Hel und schmiedeten ihn dort an einen scharfkantigen Felsen, so dass er sich nicht mehr rühren konnte. Über seinem Kopf hängten sie eine Natter auf, die ihm Tag für Tag, Nacht für Nacht ihr Gift auf den Körper spritzte. Loki litt Höllenqualen, wenn das Schlangengift seinen Körper berührte. So versuchte seine Gattin Sigyn, die freiwillig mit ihm auf die Insel im Reich des Todes gegangen war, seine Qualen zu lindern, indem sie das Gift der Natter in einer Schale auffing. Dort immer dann, wenn sie diese Schale leeren musste, spürte Loki den brennenden Schmerz, den das Gift auf der Haut verursachte. Er zitterte und bebte am ganzen Leib. Dieses Zittern und Beben war so stark, dass es überall in Midgard und auf der Erde zu spüren war.
Die Menschen nennen das Zittern noch heute Erdbeben. Und in Nächten, in denen die Erde bebt, heult noch immer der Fenriswolf und die Midgardschlange regt sich in der Tiefe des Meeres, die Wellen und Wogen türmen sich auf und eine Sturmflut brandet gegen den Wall, der das Reich Midgard gegen diese Urgewalten schützt.