20.000 Meilen unter dem Meer

  • Autor: Verne, Jules
20.000 Meilen unter dem Meer

1. Ein Monster wird gesichtet
2. Leinen los
3. Der Zusammenstoß
4. Kampf ums Überleben
5. Gefangen
6. Kapitän Nemo
7. Die Nautilus
8. Beginn der Unterseeweltreise
9. Auf Tauchgang
10. Kurs Südost
11. Der Korallenfriedhof
12. Perlentauchen
13. Der Haiangriff
14. Der arabische Tunnel
15. Das Mittelmeer
16. Atlantis
17. Das Unterwasserbergwerk
18. Auf Walfischjagd
19. Am Südpol
20. Gefangen im Eis
21. Luftmangel
22. Riesenhafte Meerpolypen
23. Der Orkan
24. Der Angriff
25. Der Mahlstrom
26. Das Ende der Reise

 

 

1. Ein Monster wird gesichtet

Es war der 20.7.1866 als die schwimmende Masse das erste Mal wahrgenommen wurde. Kapitän Baker hielt sie zuerst für ein neue Klippe, die fünf Seemeilen - also ca. 9,3 km - östlich der australischen Küste aus dem Meer ragte, und wollte sie in seine Karten eintragen. Als die Masse aber zwei Wasserfontänen von fünfzig Metern in die Luft jagte, zweifelte der Kapitän, ob er es mit einem unregelmäßigen Geysir oder mit einem bisher unbekannten Säugetier zu tun hatte.

Bis zum Frühjahr des nächsten Jahres wurde dieses Tier-Ding sowohl im Pazifik, als auch im Atlantik gesichtet und die "Aetna" stieß sogar mit dem Ungeheuer zusammen. Das Monster wurde zur Mode und inspirierte die schreibenden wie die schauspielernden Künstler. In jedem Kaffeehaus würde über den Überwal diskutiert.

Als im April 1867 mit der "Scotia" von der "Cunard-Linie" das dritte Schiff und zudem das Zuverlässigste gerammt wurde, begann die Öffentlichkeit die Existenz dieses aggressiven Gegenstandes als Bedrohung zu empfinden.

Man mobilisierte eine Reihe von Ausschüssen, die bei der Regierung eine Jagd auf das Seemonster und damit nach einem sauberen Meer forderten.

Und ich? Was hatte ich mit diesen Vorgängen zu tun? Nach einer Nebraska-Expedition hielt ich mich im März in New York auf. Mein Auftrag, den ich für die französische Regierung ausgeführt hatte, war abgeschlossen und ich wartete auf ein Schiff, das mich in die Heimat zurückbringen sollte.

Die unterschiedlichsten Vermutungen wurden diskutiert. Dass es eine wandernde Insel war, glaubte längst niemand mehr. Und auch ein Schiffsrumpf konnte nicht solch große Distanzen überwinden. Am hartnäckigsten hielt sich die Theorie es handle sich um ein Unterwasserfahrzeug mit außerordentlicher mechanischer Kraft.

Aber wer sollte eine solche Maschine besitzen? Ein Privatmann war unwahrscheinlich und irgendein Staat hätte nicht unbemerkt einen solchen Bau verrichten können. Damit fiel die Hypothese vom Panzerschiff und übrig blieb die Monster-Idee.

In Frankreich hatte ich bereits ein zweibändiges Werk über "Die Geheimnisse der Meerestiefen" veröffentlicht. Daher wurde ich als Fachmann häufiger zu den Vorfällen befragt. Zuerst weigerte ich mich zu einer Stellungnahme, aber nach dem Vorfall mit der "Scotia" veröffentlichte ich einen Artikel im "New York Herald".

Darin erklärte ich, dass die Existenz eines Riesen-Narwals durchaus möglich war. Augenzeugen schätzten die Länge des Ungeheuers auf einhundert Meter. Demzufolge musste es fünfmal so lang wie ein gemeiner Narwal sein. Am Ende meines Artikels ließ ich mir allerdings die Hintertüre offen, dass alles nur eine Erfindung, Seemannsgarn, war.

Ein Professor, wie ich, fürchtet nichts mehr als den Spott des Publikums, wenn die Realität ans Licht kommt und seine Thesen Lügen straft. Und Amerikaner lachen herzhaft, wenn sie lachen.

Mein Artikel fand großes Interesse und wurde heiß diskutiert. Viele forderten eine Säuberungsaktion der Meere, da das Ungeheuer den Handel und den Verkehr bedrohte. Die Vereinigten Staaten handelten als Erste.

Kommandant Farragut erhielt den Auftrag, die schnelle Fregatte "Abraham Lincoln" auszurüsten und zum Auslaufen bereitzuhalten. Seltsamerweise war von da ab von dem Tier nichts mehr zu hören und zu sehen. Man hätte meinen können, es habe von der geplanten Aktion erfahren. Einige Witzbolde meinten, es habe die Telegraphenstationen abgehört.

Zwei Monate lag die Abraham Lincoln, ausgestattet mit den modernsten Fangmaschinen auf der Lauer. Da kam am 2.7.1867 die Nachricht, dass das Tier in den nördlichen Gewässern des Pazifiks gesichtet worden war. Farragut erhielt den Befehl innerhalb von vierundzwanzig Stunden auszulaufen.

Drei Stunden vor der Abfahrt erhielt ich vom Sekretär der Marine folgenden Brief:

An Monsieur Pierre Aronnax, Professor am Pariser Museum, zurzeit 5th Ave. Hotel, New York.

Monsieur, die Regierung der Vereinigten Staaten würden sich sehr freuen, wenn Sie sich der Expedition anschließen würden. Kommandant Farragut hält eine Kabine für Sie bereit.

 

 

 

2. Leinen los

Bevor ich diesen Brief gelesen hatte, war ich ein Mensch mit normalen Wünschen und Ansichten. Doch jetzt fühlte ich mich berufen und erkannte, dass mein Lebenszweck von jetzt an die Verfolgung des Riesen-Narwals war.

"Conseil! Pack unsere Koffer!", rief ich meinen Diener. Er war ein liebenswürdiges flämisches Phlegma und begleitete mich auf alle meine Reisen. Seine Trägheit war so ausgeprägt, dass es ihm völlig egal schien, ob wir nach China oder in den Kongo aufbrachen. Er war ausgeglichen, beständig und zuverlässig. Außerdem wurde er niemals krank und hatte Nerven aus Stahl.

Intelligent konnte man ihn nicht nennen, aber er verfügte über eine unglaubliche Fähigkeit. Er war Spezialist im Klassifizieren. Man konnte ihm ein Stichwort sagen und er betete sämtliche Stämme, Gruppen, Unterabteilungen, Ordnungen, Familien, Gattungen, Untergattungen, Arten und Varietäten herunter. Doch blickte er in ein Aquarium konnte er keinen Goldfisch von einem Guppy unterscheiden.

"Was geschieht mit der Sammlung von Monsieur?", fragte Conseil.

"Alles bleibt hier. Wir müssen rasch fort."

"Wie Monsieur beliebt!"

"Also hör zu, mein Freund: Wir fahren mit der Abraham Lincoln…"

"Wie Monsieur beliebt."

"Es handelt sich um die Verfolgung des Riesen-Narwals…"

"Wie Monsieur beliebt."

"Es wird vielleicht… eine gefährliche Reise, von der nicht jeder wieder zurückkommt…"

"Wie Monsieur beliebt."

Im Kofferpacken war Conseil ebenso gut, wie im Klassifizieren. Ich zahlte die Hotelrechnung und gab den Auftrag meine zahlreichen Kisten nach Paris zu verfrachten.

Wenig später wurde ich an Bord der Abraham Lincoln dem Kommandanten Farragut vorgestellt und bezog anschließend meine Kabine, die im Heck lag und an den Offizierssalon grenzte.

Eine halbe Stunde später erschall das Kommando: "Leinen los!" Das Schiff löste sich langsam vom Kai und zog majestätisch den Hudson entlang. An den Ufern standen zahllose Menschen und winkten mit Taschentüchern.

Farragut war ein tüchtiger Seemann, und hatte nicht die geringsten Zweifel an der Existenz des Narwals zu dessen Verfolgung er aufgebrochen war. Die Masten mit ihrem Takelwerk hingen voller Matrosen, was daran lag, dass Farragut eine Prämie von 2 000 Dollar für die erste Sichtmeldung ausgesetzt hatte.

Essen und Schlafen wurde für alle zur Nebensache. Nur Conseil fand das Unternehmen so gewöhnlich wie jedes andere.

An Deck waren die neuesten Waffen montiert - aber das Schiff besaß noch mehr: Den König der Harpuniere namens Ned Land. Er war Kanadier, etwas vierzig Jahre alt, nahezu zwei Meter groß, ernst, wortkarg, reizbar; kurz - ein Mann der Aufmerksamkeit erregte.

Mir gegenüber war Ned Land sehr aufgeschlossen, was vielleicht daran lag, dass ich Franzose war. So konnte er seinen Heimatdialekt benutzen. Sehr schnell wurden wir Freunde. Bei einem Gespräch, an einem prachtvollen Abend etwa drei Wochen nach unserer Abreise erklärte er mir, dass er an die Meeresungeheuertheorien nicht glaube.

Er hatte selbst so viele Seetiere erlegt, dass er die Existenz eines solchen Riesenwals für unmöglich hielt.

Doch meiner Ansicht nach gehörte dieses Wesen zu den Wirbeltieren, Klasse der Säuger, Gruppe der Fischförmigen, Ordnung der Walfischartigen. Die Familie konnte ich nicht bestimmen, dafür musste das Untier erst zerlegt werden.

Um es zu zerlegen müsste es gefangen werden und um gefangen zu werden müsste man es harpunieren und harpunieren konnte man es erst, wenn man es sah und daran haperte es im Moment.

 

 

 

3. Der Zusammenstoß

Augen auf!, hieß die Parole der Mannschaft. Doch die Fahrt verlief seit Wochen erfolglos. Am 6. August umfuhren wir das Kap Hoorn und drangen in die Gewässer des Pazifik ein. Die Aussicht auf zweitausend Dollar ließ alle sehr wachsam sein.

Nur Ned Land verbrachte mindestens acht Stunden am Tag unter Deck mit Lesen und Schlafen. Als ich ihn darauf ansprach, erklärte er: "Das Tier wurde vor über zwei Monaten das letzte Mal gesehen. Wir wissen, dass es sich schnell voran bewegt. Ich sehe wenig Sinn darin, es in Gebieten zu suchen, in denen es sich vor zwei Monaten aufgehalten hat."

Die häufige Spannung und Enttäuschung und der Schlafmangel begannen an der Besatzung zu nagen. Nachdem die Abraham Lincoln zwischen Japan und Amerika keinen Punkt unberührt gelassen hatte und es dennoch kein Anzeichen eines Riesen-Narwals gab, begann die Mannschaft zu meutern.

Die zuversichtliche Stimmung hatte sich gründlich geändert und nach der Aufmerksamkeitswelle, machte sich jetzt eine demonstrative Fress- und Schlafwelle breit.

Am 2. November forderte eine Abordnung von ihrem Kommandanten, er solle umkehren. Farragut erbat sich noch drei Tage, danach wollte er wieder europäische Meere ansteuern. Dieses Versprechen verbesserte die Laune und die Männer taten ihr bestes, um die Aufmerksamkeit des Tieres auf sich zu ziehen.

Sie ließen riesige Speckstücke zu Wasser, die allerdings nur Haie anlockten. Am 5. November lief der Termin ab. Wir befanden uns ungefähr 300 Seemeilen von Japan entfernt. Conseil hielt mir gerade einen Vortrag, wie sinnlos mein Handeln sei und ich sechs Monate meines Lebens vergeudet hätte, als Ned Land plötzlich rief:

"Das gesuchte Ding ahoi! Querab von uns unter Wind!"

Auf diesen Ruf stürzten alle nach Steuerbord. Und tatsächlich; zwei Kabellängen, was knapp 400 Metern entspricht, entfernt, schien das Meer von innen heraus zu leuchten. Das Licht war so stark, dass es nur elektrisch sein konnte. Wie wir noch starrten, begann sich die Lichterscheinung auf uns zu zubewegen.

"Steuer hart steuerbord! Volle Kraft voraus!", schrie Farragut. Die Fregatte entfernte sich, so rasch es ging von der leuchtenden Stelle. Aber das Untier verfolgte uns und bewegte sich doppelt so schnell wie wir. Bestürzung machte sich breit.

Statt anzugreifen, floh die Abraham Lincoln - statt zu verfolgen, wurde sie verfolgt. Als ich Farragut aufsuchte, meinte er: "Ich kann meine Fregatte nicht leichtsinnig auf Spiel setzen, Monsieur Aronnax. Wir müssen den Tag abwarten, dann können wir angreifen."

Ned Land, der sich zu uns begeben hatte, forderte Farragut auf, ihn am nächsten Tag die Möglichkeit zu geben, das Untier dingfest zu machen. "Ich brauche ihm nur auf vier Harpunenlängen nahe zu kommen."

In der Nacht wurden die Kanonen und Harpunenschleudern vorbereitet. Ned Land legte lediglich seine Harpune zurecht.

Als der Tag zu grauen begann, verschwand der elektrische Glanz des Tieres und eine Seemeile entfernt tauchte der schwärzliche Körper aus dem Wasser. Aus seinen beiden Luftlöchern schleuderte es mindestens vierzig Meter hohe Wasserdampfstrahlen.

Ned Land begab sich an den Bug und man ließ das Tier herankommen. Dann begann eine Jagd, bei der die Abraham Lincoln bestimmt achtzehn Knoten brachte, aber das Untier hielt die Geschwindigkeit locker mit. Als wir nur noch dreißig Meter entfernt waren, schwang Ned Land seine Harpune wir näherten uns weiter und es waren noch sechs Meter als er die Waffe losschleuderte.

Deutlich hörte ich den scharfen Klang des Aufpralls, als habe er Metall getroffen. Das Tier tauchte ab, wobei ein enormer Wasserstrudel entstand, der die Mannschaft zu Boden riss. ein entsetzlicher Stoß schleuderte mich über die Reling ins Meer.

 

 

 

4. Kampf ums Überleben

Ich hatte den Halt, aber nicht den Kopf verloren. Ich schlug ins Wasser und tauchte fünf bis sechs Meter unter. Automatisch begann ich mit den Beinen zu rudern. Wieder an der Oberfläche, brauchte ich eine ganz Weile, bis ich die Fregatte erkannte.

Sie verschwand in der Ferne. Verzweiflung machte sich bei mir breit und ich rief um Hilfe. Doch dabei schluckte ich Salzwasser und wurde noch panischer. Meine nassen Kleider hingen schwer an mir und behinderten mich beim Schwimmen. Ich sank, wollte rufen, schluckte Wasser, hustete, sank und prustete

Da fühlte ich mich plötzlich am Kragen gepackt, und hörte die rettenden Worte: "Wenn Monsieur die Güte haben, sich bei mir zu stützen, geht es gleich besser."

"Conseil! Wurdest du auch über Bord geschleudert?"

"Keineswegs. Aber da Monsieur einen Anspruch auf meine Dienste hat, bin ich Monsieur nachgesprungen! Die Fregatte ist übrigens manövrierunfähig. Sie wurde von Ungeheuer zerbrochen."

Conseil kam dicht heran und schnitt mir mit einem Messer die nasse Kleidung vom Leib. Dann schlug er vor, ruhig und gleichmäßig zu schwimmen, bis sich unsere Lage verbessern würde. Er war zu phlegmatisch, um sich aufzuregen.

Wir teilten unsere Kräfte ein, indem der eine auf dem Rücken lag und "toter Mann" spielte und der andere schwamm und ihn mit leichten Stößen vor sich her schob. Alle zehn Minuten wechselten wir die Rollen und hofften es auf diese Weise auszuhalten, bis es hell würde.

Aber die Ermüdung wurde immer stärker, dazu kamen Krämpfe und Schüttelfrost. Ich war schon drauf und dran aufzugeben, da schrie Conseil einige Male herzhaft um Hilfe und uns war so, als ob wir ein Rufen hörten.

Angestachelt von der Hoffnung auf Rettung riefen wir zusammen weiter. Mit letzter Kraft bewegten wir uns in die Richtung, aus der wir die Stimme vermuteten. Meine halb erfrorenen Glieder versagten mehr und mehr ihren Dienst und als ich erneute rufen wollte, schluckte ich Wasser und ging unter.

Dabei stieß ich gegen einen Gegenstand und ich klammerte mich unweigerlich daran fast. Jemand riss mich empor und dann wurde ich ohnmächtig.

Ich muss vom Reiben an meinem Körper wieder aufgewacht sein. Zuerst erkannte ich den treuen Conseil - das andere Gesicht war im Mondlicht ebenfalls deutlich zu erkennen: Ned Land!

"Was, Sie wurden ebenfalls von Bord geschleudert?", fragte ich.

"Allerdings - die Kraft meiner Harpune riss mich hinunter. Aber ich hatte Glück und konnte mich gleich auf eine kleines Inselchen retten."

"Inselchen?"

"Oder Riesen-Narwal - wie Sie wollen. Jedenfalls weiß ich nun, warum meine Harpune nicht eindringen konnte. Ihr angeblicher Meeressäuger besteht aus blank polierten Eisenplatten, Herr Professor."

Dieser Satz brachte mich wieder vollständig zu Bewusstsein. Ich sprang auf und trat mit den Füßen gegen den Untergrund; klopfte darauf - es bestand kein Zweifel; das Wundertier, das Ungeheuer, das alle Gelehrten gefoppt hatte, war ein Wunder von Menschenhand!

Wir befanden uns sozusagen an "Deck" eines Unterwasserfahrzeuges, das offenbar eine Fischform besaß. Und wenn es eine Maschine war, musste es Menschen geben, die es fortbewegten. Waren wir gerettet?

Ned Land warf ein, dass er seit drei Stunden auf diesem Ding hockte und sich nichts gerührt hätte.

In dem Moment begann sich am anderen Ende des Fahrzeuges offensichtlich eine Schraube zu bewegen, da wir uns in Bewegung setzten. Der Apparat machte nur langsame Fahrt und wir konnten uns gut halten. Aber was, wenn er untertauchte?

Also begannen wir wild mit unseren Füßen zu trampeln. Natürlich hatten wir nicht viel Hoffnung, dass man uns im Inneren hörte, doch plötzlich stoppte die Schraube, eine Platte des Verdecks hob sich und ein Mann erschien in der Luke.

Er stieß einen Schrei aus, verschwand und kehrte wenige Augenblicke mit acht starken Männern, die Masken trugen zurück. Sie packten uns und schleiften uns in den Leib des technischen Monsters.

 

 

 

5. Gefangen

Alles war blitzschnell geschehen. Die Luke schloss sich und es herrschte undurchdringliche Dunkelheit. Ich fühlte eine eiserne Treppe unter meinen Füßen an deren Ende eine Tür war, durch die wir geschoben wurden. Jemand schloss hinter uns ab.

Ned Land erholte sich schnell von dem Schreck und begann ordentlich zu fluchen. Er schwor jeden zu massakrieren, der ihn anrührte.

"Damit seien Sie mal vorsichtig. Unnötige Gewalt bringt uns nur in Gefahr. Stellen wir erst einmal fest, was das für Leute sind und wo wir uns befinden."

Ich tastete mich durchs Dunkel und lief den Raum ab. Er musste ungefähr sechs auf drei Meter groß sein und die Wände waren ebenfalls aus poliertem Eisen. Nach einer halben Stunde ging plötzlich ein grelles Licht über uns an.

Jetzt konnten wir die Einrichtung der Kabine genau erkennen. Um einen Tisch standen fünf Schemel - mehr war da nicht. Nicht einmal eine Türe war auszumachen. Wir hörten, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde und zwei Männer traten herein.

Der eine war untersetzt und kräftig mit reichlich schwarzen Haaren und einem dicken Schnurrbart.

Der andere verdient eine ausführlichere Beschreibung. Auf den ersten Blick erkannte ich, dass ich es mit einem außergewöhnlichen Mann zu tun hatte. Er strahlte Selbstvertrauen, Gelassenheit und Energie aus und machte einen stolzen Eindruck.

Gegen meinen Willen fühlte ich mich in der Nähe dieses Mannes sicher und war gespannt auf ein Gespräch mit ihm. Sein Alter konnte ich kaum schätzen. Irgendwo zwischen fünfunddreißig und fünfzig Jahren.

Seine Augen standen etwas weiter auseinander, was ihm einen außergewöhnlichen Blick verlieh. Später sollte ich erfahren, dass er die Fähigkeit hatte in einem ungewöhnlich weiten Radius Dinge zu erspähen.

Die beiden Männer trugen Mützen aus Seeotterfell und Stiefel aus Robbenfell. Der Große betrachtete uns eindringlich und sprach kein Wort. Dann unterhielten sie sich mit unverständlichen Worten und schienen eine Frage an mich zu stellen.

Conseil schlug vor, dass ich unsere Geschichte in Französisch erzählen solle. Das tat ich dann auch langsam und deutlich. Aber die beiden machten nicht den Eindruck, als ob sie irgendetwas verstanden.

Daraufhin versuchte Ned Land sein Glück mit seinem besten Schulenglisch. Mit dem selbem Erfolg. Conseil, der Flame war, kramte seine Kenntnisse in Deutsch hervor und erzähle die Geschichte zum dritten Male.

Sie wechselten Blicke, sprachen kurz miteinander und zogen sich zurück, ohne sich weiter um uns zu kümmern.

Ned Land wurde wütend: "Da redet man französisch, englisch und deutsch und die verstehen nichts und lassen uns hier jämmerlich verhungern."

In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet und ein Steward trat ein. Er trug Kleidung über den Arm, die er an uns verteilte und legte anschließen drei Gedecke auf den Tisch. Die Schüsseln waren mit silbernen Glocken zugedeckt und man konnte meinen, man wäre im Pariser Grand-Hotel.

Wir hoben sie an und entdeckten allerlei Fisch, der köstlich zubereitet war. Andere Speisen konnte ich nicht richtig einstufen, aber sie schmeckten vorzüglich. Das Tafelsilber trug jedes eine Gravur, auf der stand: "Mobilis in Mobili", was so viel bedeutete, wie "Beweglich im Bewegten".

Das passte ausgezeichnet auf das Fahrzeug. Nach dem Essen, ergriff uns eine übermächtige Müdigkeit und meine beiden Gefährten sanken auf einer Matte nieder. In meinem Kopf schwirrten noch die ungelösten Fragen herum. Wo waren wir? Welche Macht hatte uns entführt? Sank das Fahrzeug auf den Meeresgrund?

 

 

 

6. Kapitän Nemo

Wie lange wir geschlafen haben, wusste ich nicht. Ich erwachte ausgeruht, jedoch mit einem Gefühl, als könne ich kaum atmen. Offenbar, war der Sauerstoff in unserem eisernen Gefängnis nahezu verbraucht.

So tief ich auch einatmete, meine Lungen wurden nicht ausreichend versorgt. Die Frage war, wie dieses Fahrzeug neuen Sauerstoff produzierte.

Als wir schon Erstickungs- und Angstgefühle bekamen, überschwemmte uns plötzlich ein Strom reiner, jodduftender Meeresluft. Völlig berauscht, füllten wir unsere Lungen.

"Jetzt fehlt nur noch eine ordentliche Mahlzeit", sagte Ned Land. "Aber wahrscheinlich lassen die uns in diesem Loch jämmerlich krepieren, diese Verbrecher."

"Meister Land, Ihre Einstellung ist zu aggressiv. Sie müssen sich zurückhalten, das bringt sonst nur Ärger."

"Im Gegenteil, Professor. Es muss sofort gehandelt werden. Ich werde uns aus diesem Gefängnis befreien. Wir werden das Kommando hier übernehmen und wieder nach Hause fahren."

"Sie wollen sich des Fahrzeugs bemächtigen? Hören Sie: Warten Sie damit noch ab! Wir wissen nicht, was man mit uns vorhat. Außerdem müssen wir uns erst einen Plan zurechtlegen und dafür müssen wir die Gewohnheiten an Bord auskundschaften. Sie müssen mir versprechen, nichts Unbedachtes zu tun, Ned Land!"

"Einverstanden", sagte der Kanadier brummig.

Wie ich es nicht anders erwartet hatte, hielt er sich nicht an unsere Abmachung. Ganz im Gegenteil. In Selbstgesprächen steigerte er sich derartig in seinen Zorn, dass er die Beherrschung verlor und mit den Fäusten gegen die eisernen Wände trommelte.

Allmählich verflüchtigte sich auch bei mir das Gefühl von Sicherheit, das ich bei der Begegnung mit dem Großen empfunden hatte. Meine Nervosität ließ mich erzittern und meine Phantasie malte wüste Bilder von einem Mann, der sich der Menschheit abgewandt hat und fähig war uns verhungern zu lassen ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.

Da hörte ich draußen ein Geräusch. Der Riegel wurde weggeschoben und der Steward trat ein. Er war noch nicht richtig drinnen, als sich Ned Land auf ihn stürzte und ihm die Kehle würgte. Conseil und ich gingen dazwischen um das Schlimmste zu verhindern.

Plötzlich ertönten Worte in meiner Muttersprache: "Beruhigen Sie sich, Ned Land! Und Sie, Herr Professor, hören Sie mich an!"

Der Große hatte gesprochen. Ned Land ließ von seinem Opfer ab und der Steward verließ ohne die Miene zu verziehen den Raum. Der Kommandant lehnte an der Tischkante und beobachtete uns mit seinem außergewöhnlichen Blick. Nach einer Weile begann er gelassen und doch eindringlich:

"Messieurs, ich spreche Französisch, Englisch und Deutsch. Ich hätte Ihnen also schon längst antworten können. Nachdem ich nach ihrer dreifachen Erzählung wusste, dass ich es mit Professor Aronnax vom Pariser Museum, seinem Diener Conseil und mit dem kanadischen Harpunier Ned Land von der Fregatte Abraham Lincoln zu tun habe, musste ich nachdenken, was ich mit Ihnen anfangen soll."

Er sprach mit einer Leichtigkeit und nahezu akzentfrei. Dennoch hatte ich das Empfinden, dass er nicht Franzose sei.

"Mit Ihrer Expedition sind sie in meine Nähe gekommen. Ich habe vor Jahren mit der Menschheit gebrochen und keiner weiß von meiner Existenz. Durch Ihre Jagd ist mein Dasein nun in Gefahr."

Ich versuchte mich zu rechtfertigen, dass wir nur hinter ihm her waren, weil wir annahmen einem Riesenmeeressäuger auf der Spur zu sein. Wie konnten wir wissen, dass es sich um ein Unterseeboot handelte. Aber diesen Einwurf ließ der Große nicht gelten.

"Eigentlich müsste ich Sie wie einen Feind behandeln. Ich hätte Sie ins Meer werfen können. Sie wären ertrunken und vergessen."

"So etwas machen nur Wilde, aber keine zivilisierten Menschen", sagte ich.

"Mein Herr Professor, ich bin kein zivilisierte Mensch. Aus Gründen die nur ich kenne lebe ich ihm Meer und hier gelten nur meine Regeln. Das Schicksal hat Sie an Bord meines Schiffes gebracht. Sie werden hier bleiben und können sich relativ frei bewegen. Aber dafür verlange ich ein Versprechen."

"Und das wäre?", fragte ich.

"Es könnte vorkommen, dass ich Sie für Stunden oder sogar Tage in die Kabine einschließen muss. Dabei möchte ich keine Gewalt anwenden und erwarte deshalb Gehorsam. Es geschieht zu Ihrem eignen Schutz. Sind Sie damit einverstanden?"

Dinge sollten an Bord vorgehen, die wir nicht sehen durften - was sollte das sein?

"Angenommen!", sagte ich, "aber definieren Sie das Wort Freiheit bitte etwas ausführlicher."

"Es sind dieselben Freiheiten, die meine Gefährten und ich haben. Sie dürfen sich an Bord frei bewegen."

"Das soll bedeuten, dass wir nie wieder nach Hause dürfen. Das ist nicht Ihr Ernst."

"Allerdings. Sie vergessen, dass Sie mich angegriffen haben. Damit sind Sie in den Besitz eines Geheimnisses gelangt, dass niemand auf der Welt erfahren darf. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich Sie wieder lebend auf die Erde entlasse, die mich nicht kennen darf!?"

"Also die Wahl zwischen Leben und Tod?"

"Richtig!"

"Dieses Versprechen werden meine Begleiter und ich niemals geben."

"Erlauben Sie mir, Professor Aronnax, Ihnen mitzuteilen, was ich zu sagen habe. Ich kenne Sie. In meiner Bibliothek steht ihr schönes Werk über die Tiefseefauna. Ein gutes und kluges Buch. Sie sind so weit vorgedrungen, wie Sie nur konnten. Die Reise mit meinem Schiff wird Ihnen allerdings eine neue Welt eröffnen. Ich habe vor, vielleicht ein letztes Mal, unter den Meeren um die Welt zu fahren, um meine Tiefseestudien abzuschließen.

Sie sollen als mein Studiengefährte daran teilhaben. Sie werden sehen, was noch nie ein menschliches Augen sah, und ich werde Ihnen die letzten Geheimnisse unseres Planeten enthüllen."

"Ich nehme an, Monsieur", antwortete ich. "Aber eine Frage habe ich noch. Mit welchem Namen dürfen wir Sie ansprechen?"

"Ich bin Kapitän Nemo, und dieses Schiff ist die Nautilus."

Er rief den Steward und dieser brachte Ned Land und Conseil in eine Kabine, wo ein Menü auf sie wartete. Auch ich wurde zum Essen eingeladen; bei Kapitän Nemo persönlich. Er führte mich durch einen zehn Meter langen Gang in den Speisesaal, der festlich dekoriert war.

Der Tisch in der Mitte war reich gedeckt. Nemo wies mir meinen Platz und forderte mich auf zuzugreifen. Am Jodgeschmack der Speisen konnte ich erkenne, dass sie alle aus dem Meer waren. Nemo erklärte mir, dass die Speisen allesamt gesund und nahrhaft seien. Alles, was er und seine Mannschaft aßen, holten sie sich aus dem Meer.

Es gab Meerschildkröte, Delfinleber, die wie Schweineragout schmeckte, eingemachte Seegurke und sogar Sahne, die er aus Seesäugermilch gewann. Als Nachtisch reichte er mir Seeanemonenkonfekt. Während ich alles probierte, erklärte mir der Kapitän, dass sie sogar die Kleidung aus dem Meer gewannen.

Die Stoffe sind aus Fasern einiger Muscheln gewebt. Parfüm aus Seepflanzen destilliert. Das Bett, die Schreibutensilien alles aus dem Meer.

"Sie sind ein großer Freund des Meeres, Kapitän", sagte ich.

"Oh ja. Ich liebe es. Das Meer bedeckt sieben Zehntel der Erdoberfläche. Es ist die lebendige Unendlichkeit. Professor, alle drei Reiche der Natur sind hier vertreten: Steine, Pflanzen, Tiere. Der Reichtum der Fauna ist unerschöpflich. 13 000 Gattungen sind unter Wasser heimisch davon nur zehn Prozent im Süßwasser.

Hier haben Tyrannen keine Macht. Hier allein kenne ich keinen Herrn. Hier bin ich fei!"

 

 

 

7. Die Nautilus

Als Nemo aufstand, folgte ich ihm. Wir verließen den Speisesaal und betraten den angrenzenden Raum; die Bibliothek. Auf kupferbeschlagenen Regalen standen unzählige Bücher. Mit Leder gepolsterte Sitzbänke luden zum Lesen ein.

"Diese Bibliothek würde so manchem Herrenhaus auf der Erde große Ehre machen", bemerkte ich.

"Da mögen Sie Recht haben, Professor. Es sind 12 000 Bände, die ich über viele Jahre gesammelt habe. An meinem letzten Tag auf der Erde habe ich meine letzten Bücher und Zeitschriften gekauft und seither lebe ich in der Vorstellung, dass nichts Neues mehr gedacht und aufgeschrieben wird."

Bei näherer Betrachtung fand ich alle Meisterwerke der alten und modernen Schriftsteller. Ein Band erregte meine Neugierde besonders. "Begründung der Astronomie", von Joseph Bertrand - ich wusste sicher, dass es erst im Jahr 1865 erschienen war. Somit konnte die Nautilus höchstens seit drei Jahren durch die Meere ziehen.

"Im Übrigen ist dieser Raum nicht nur die Bibliothek, sondern auch der Rauchsalon. Hier, bitte bedienen Sie sich", sagte Kapitän Nemo und reichte mir eine Zigarre, die aus Goldblättern gewickelt schien. Ich zündete sie an und stellte fest, dass sie ganz hervorragend schmeckte. Nemo erklärte mir, er würde sie aus einer nikotinreichen Algensorte gewinnen.

Wir verließen die Bibliothek und gelangten durch eine Doppeltür in einen strahlend erleuchteten, riesenhaften Saal. Es war sein Privatmuseum, in dem er Gemälde, Waffen, Statuen ebenso wie Musikinstrumente und Partituren von Mozart, Beethoven und Haydn sammelte.

Im hinteren Teil befanden sich Vitrinen und Schaukästen, in denen Schätze aus dem Reich der Natur lagen. Für mich ein wahres Fest. Schwämme, Hohltiere, Gliederfüßer, Weichtiere - es war eine Ansammlung von unschätzbarem Wert.

Mitten im Saal stand ein elektrisch beleuchteter Springbrunnen, dessen Schale aus eine der größten im Meer vorkommenden Muscheln bestand. Der Umfang betrug gut und gerne sechs Meter.

Ich erblickte Perlen, die um ein vielfaches größer waren, als die berühmtesten Stücke oben auf der Erde.

"Oh ja, Kapitän, ich begreife Ihre Freude, wenn Sie durch solche Schätze wandeln dürfen. Kein europäisches Museum kann sich mit Ihnen messen. Aber meine Neugier ist nicht gestillt. Mich interessiert, welche geheimnisvolle Kraft die Nautilus antreibt."

"Dafür nehme ich sie mit in mein Zimmer."

Wir betraten den Gang, dem wir bis zum vorderen Teil der Nautilus folgten. Die erste Tür, die er öffnete, führte in meine zukünftige Kabine - ein eleganter Raum. Die Tür daneben war der Eingang zu seinem Zimmer. Alles darin wirkte ernst und asketisch. Der Raum stand im absoluten Gegensatz zu den Salons:

Ein eisernes Bett, ein Arbeitstisch, Schüssel und Kanne zum Waschen. Nur die Wände hingen voll mit Messuhren.

"Die meisten dieser Instrumente kennen Sie", sagte Nemo. "Thermometer zum Messen der Innen- und Außentemperatur, Barometer zum Messen des Luftdrucks, Hygrometer zum Messen der Feuchtigkeit, Wetterglas zur Frühwarnung bei Stürmen, Kompass für die Himmelsrichtungen, Sextant für die Messung der Breite, Chronometer zur Errechnung der Länge auf der sich die Nautilus befindet.

Aber dieses hier, wäre auf einem normalen Schiff völlig unnütz: ein Manometer zur Messung des Wasserdrucks. Damit kann ich die Tiefe bestimmen, in der wir uns befinden."

Nemo fiel auf, dass mein Blick an den Uhren hing, die er noch nicht erklärt hatte. Er bot mir einen Platz an seinem Arbeitstisch an und fuhr fort:

"Die gesamt Nautilus wird von einer einzigen Kraft beherrscht. Die Elektrizität!"

"Aber bisher gab es keine Möglichkeit, dass die Elektrizität solch große Aufgaben übernehmen konnte…", warf ich ein.

"Meine Kraft gehört nicht mehr dieser Welt. Ich gewinne sie, wie alles, aus dem Meer, indem ich dem Salzwasser das Kochsalz entziehe. Kochsalz bildet zusammen mit Quecksilber meine Grundlage für eine Bunsenbatterie. Diese Kochsalzsäulen erzeugen im Übrigen eine viel stärkere elektrische Energie als Zinkplatten."

"Aber dieses Kochsalz müssen Sie doch zuerst herausfiltern. Ich bin mir sicher, dass die Energie dazu größer ist, als die, die Sie gewinnen."

"Dafür benutze ich auch nicht die Batterie, sondern - sagen wir Meerkohle."

"Sie beuten unterseeische Kohleminen aus?"

"Ja. Und Sie werden das miterleben. Nur ein bisschen Geduld, Professor. Ich sagte doch, ich bekomme alles aus dem Meer."

"Außer die Atemluft!"

"Richtig. Aber es wäre mir durchaus möglich sie ebenfalls selbst herzustellen. Doch einfacher ist es aufzutauchen, und die Tanks über elektrische Pumpen zu füllen."

Ich zollte Kapitän Nemo meine Bewunderung für seine Forschungsarbeiten. Er zeigte mir eine Uhr, die ebenfalls mit elektrischem Strom lief und einen Tachometer, der die Geschwindigkeit anzeigte. Doch das sei noch nicht alles.

Er stand auf und lud mich ein ihm zu folgen. Am Heck der Nautilus zeigte er mir ein Boot, das in eine Nische der Außenwand seines Schiffes eingepasst war. Um das Boot flottzumachen, brauche er nicht aufzutauchen. Durch einen doppelten Boden konnte man es betreten und es war über eine elektrische Leitung mit der Nautilus verbunden.

Wir gingen weiter und er zeigte mir die Schiffsküche, in der ebenfalls alles elektrisch geschah: Glühende Kochplatten aus Platindraht und Kühler, in denen das Trinkwasser zubereitet wurde. Aus den Hähnen im angrenzenden Badezimmer floss warmes und kaltes Wasser.

Nach einem kurzen Blick in den Maschinenraum, bei dem ich erkannte, welch gewaltige Kraft die Elektrizität hatte, führte Nemo mich wieder in den Salon und erklärte mir das Prinzip, wie die Nautilus auf- und abtauchte.

Rings um den Rumpf waren gewaltige Wasserbehälter angebracht, die er bei Bedarf fluten oder leer pumpen konnte. Außerdem hatte er nicht nur ein Steuerruder, sondern ein Höhenruder, mit dem er sich auf jede gewünschte Weise nach oben oder unten bewegen konnte.

Der Steuermann hatte eine Kanzel, von der er über dicke Linsengläser alles beobachten konnte. Außerdem erhellte ein starker Reflektor das Meer auf fast einen Kilometer.

Ich musste zugeben, dass die Nautilus ein wunderbares Fahrzeug war und Kapitän Nemo bestätigte mir, dass er sie liebte, wie sein Fleisch und Blut. Er habe sie entwickelt, erbaut und nun kommandiere er sie.

"Sie sind von Beruf Ingenieur?"

"Ja, ich habe in Paris, London und New York studiert."

"Aber eines begreife ich nicht. Wie konnten sie unbemerkt ein solches Schiff erbauen?"

"Ich habe jedes Einzelteil von einer anderen Firma in einem anderen Land unter einem anderen Namen erstanden. Das ist das Geheimnis. Alle diese Teile ließ ich in meine geheime Werkstatt auf einer einsamen Ozeaninsel bringen. Nachdem wir den letzten Handgriff getätigt hatten, verbrannten wir unsere Spuren!"

"Ich möchte nicht neugierig sein, aber die Nautilus muss eine schöne Stange Geld gekostet haben?"

"Zusammen mit meiner Sammlung: fünf Millionen Franc."

"Sie müssen ein reicher Mann sein!"

"Es würde mir nichts ausmachen die zehn Milliarden Franc Schulden, die Frankreich hat, bar zu begleichen."

 

 

 

8. Beginn der Unterseeweltreise

Betrachtet man die geologischen Entwicklungen unserer Erde, dann folgt auf eine Zeit des Feuers die Zeit des Wassers. Der gesamte Erdball war von Wasser überdeckt und erst nach und nach tauchten einzelne Bergspitzen wie Inseln heraus. Aus den Inseln wurden unsere Kontinente um die das Wasser der fünf großen Weltmeere stehen blieb.

Nördliches und Südliches Polarmeer, Indischer, Atlantischer und Pazifischer Ozean. Im Pazifischen Ozean sollte unsere Reise beginnen.

"Wir wollen den Punkt unserer Abreise genau aufnehmen", sagte Kapitän Nemo. "Wir haben 11.45 Uhr und tauchen vorerst einmal auf."

Ich hörte, wie die Pumpen zu arbeiten begannen und die Tanks entluden. Automatisch veränderte sich die Anzeige auf dem Manometer. Als es still stand erklärte Nemo, dass wir oben seien.

Wir stiegen auf die Plattform. Das Meer lag ruhig vor uns und der Himmel strahlte. Land war weit und breit nicht in Sicht. Mit dem Sextanten maß Nemo unsere Breite und wir stiegen wieder hinab. Nach einigen Berechnungen erklärte er:

"Wir liegen rund 200 Seemeilen vom japanischen Festland entfernt. Heute ist der 8.11.1867. Es ist Mittag. Unsere Reise beginnt jetzt und hier, Professor Aronnax. Ich habe den Kurs Ostnordost ausgegeben. Auf diesen Karten können sie unsere Route verfolgen. Jetzt müssen Sie mich leider entschuldigen."

Er drehte mir abrupt den Rücken zu und verließ den Salon. Ich blieb allein mit meinen Fragen: Woher kam dieser Kapitän Nemo? Warum hatte er sich von den Menschen abgewandt? Warum war er so überaus reich und belesen?

Während ich darüber nachdachte, beugte ich mich über die Seekarten vor mir und stellte fest, dass wir uns direkt im Schwarzen Fluss befanden. Auch in den Meeren gab es Flüsse, wie auf den Kontinenten. Und dieser war mit seiner dunklen Farbe besonders eindrucksvoll. Wir folgten also mit der Nautilus dieser blauschwarzen Bewegung, die sich in den Weiten des Stillen Ozeans verlor.

Ned Land und Conseil erschienen in der Tür des Salons und staunten nicht schlecht über den Anblick des Museums.

"Bin ich hier im Museum von Quebec?", fragte der Kanadier misstrauisch.

"Sie befinden sich auf der Nautilus fünfzig Meter unter dem Meeresspiegel", antwortete ich.

Conseil hatte bereits die Schaukästen ausgemacht und begann die Gegenstände zu klassifizieren. Als er gerade eine Cyproea madagascariensis der Familie der Buccinoiden und der Klasse der Gasteropoden zuwies, trat Ned Land dicht an mich heran.

"Wo ist Nemo? Was hat er vor und woher kommt er?"

"Ich weiß nur, dass wir zu einer Untersee-Weltreise aufgebrochen sind. Haben Sie schon Näheres herausgefunden?"

"Nein. Verdammt, das gibt es doch nicht. Ich weiß nicht einmal wie groß die Mannschaft ist. Man muss sich doch darauf einrichten, wie groß die Mannschaft ist."

"Es wäre mir lieber, Sie würden Ihre Pläne, die Nautilus zu übernehmen aufgeben. Bei diesem technischen Wunderwerk haben wir keine Chance…"

Plötzlich ging das Licht aus.

"Das ist das Ende", flüstere Ned Land.

Wir hörten ein seltsames Geräusch und es wurde langsam etwas heller. Wir erkannten eine Glasplatte durch die das Meer auf eine Seemeile erleuchtet war. Aus unserem dunklen Salon, konnten wir alles hervorragend erkennen. Fasziniert blickten wir nach draußen, uns dessen bewusst, dass kein Mensch vor uns je so etwas gesehen hatte. Mit Ausnahme von Nemo und seiner Mannschaft natürlich.

Ned Land beruhigte sich schnell denn der Anblick zog auch ihn in seinen Bann. Ich verstand Kapitän Nemo jetzt ein ganzes Stück besser. Er hatte sich eine eigene Welt eröffnet, deren Wunder er jeden Tag erfahren durfte.

"Welche Fischpracht", bemerkte Ned Land.

Conseil, hörte das Stichwort Fische und sah den Zeitpunkt gekommen, den Kanadier über diesen Bereich zu belehren. Nicht nur, dass er Ned Land, fast wie in Trance die fünf Ordnungen von "Primo" bis "Quinto" herunterbetete, nein er wollte gerade mit den Familien, Gattungen und Arten fortfahren, als ihn der Kanadier in die Wirklichkeit zurückholte und aufforderte aus dem Fenster zu sehen. Schließlich schwömmen die Fische vor ihren Augen, wie in einem Aquarium, meinte Land.

"Na", sagte ich, "im Aquarium stecken eher wir. Das da draußen ist die Freiheit."

"Wie sieht es aus Conseil. Stellen Sie uns die Fische jetzt in Natura vor?", forderte Ned Land Conseil auf.

"Tut mir leid, da kenne ich mich nicht aus. Das ist Ihr Fachgebiet, Monsieur."

Jetzt hatte der Harpunier seine große Stunde und zeigte uns einen Schwarm chinesischer Hornfische, die einen platten Körper und einen Stachel auf dem Rücken hatten. Dazwischen schwammen Rochen einer seltenen Spezies.

Für zwei Stunden starrten wir gebannt, wie eine Armee von Meeresbewohnern uns begleitete. Ned Land stellte sie vor und Conseil ordnete sie ein. Niemals zuvor hatte ich so etwas erlebt.

Plötzlich wurde es hell und die eisernen Wandplatten schoben sich vor die Fenster. Die Vorstellung war beendet. Wir verließen ganz benommen den Salon und ich verbrachte den Abend mit Lesen, Schreiben und Nachdenken.

 

 

 

9. Auf Tauchgang

Ich erwachte am nächsten Tag sehr spät. Nachdem ich mich angezogen hatte, ging ich in den Salon, der leer war. Eine Weile sah ich mich um und wartete auf Kapitän Nemo. Aber der erschien nicht. Für drei Tage bekamen wir weder von ihm, noch von einem Mitglied der Mannschaft etwas zu sehen. Doch unsere reichlichen Mahlzeiten standen regelmäßig bereit.

Am Abend des zweiten Tages beschloss ich, ein Reisetagebuch zu beginnen. Papier dafür fand ich in der Schublade meines Schreibtisches. Es war aus Seegras gefertigt.

Das seltsame Verhalten änderte sich nicht. Ganz im Gegenteil. Als ich am vierten Tag erwachte, roch ich frische Meeresluft und wusste, dass wir an der Oberfläche schwammen. Ich begab mich auf die Plattform, aber der Kommandant ließ sich nicht blicken.

Das wiederholte sich fünfmal. Fünf Tage lag die Nautilus an der Wasseroberfläche. Inzwischen war der 16. November. Da erhielt ich endlich ein Zeichen. Auf meinem Tisch lag ein Brief in dem Nemo mich zu einer Jagdpartie in den Wäldern der Insel Crespo einlud.

Also geht er doch an Land! Ich fand die Insel auf meiner Karte, ganz verloren mitten im Pazifik. Wenn er schon die Erde betrat, dann nur an der einsamsten Stelle, dachte ich.

Nemo erwartete mich bereits im Salon. Über seine achttägige Abwesenheit verlor er kein Wort. Wir unterhielten uns über die bevorstehende Jagd und ich konnte nicht umhin, ihn auf seine Inkonsequenz hinzuweisen.

"Sie haben mit der Erde gebrochen und doch besitzen Sie Wälder auf der Insel Crespo?"

"Meine Wälder, Herr Professor, brauchen weder das Licht noch die Wärme der Sonne. Dort gibt es keine Tiger, Panther oder Löwen. Ich bin der einzige Mensch, der sie kennt. Sie stehen unter dem Meer."

"Unterirdische Waldungen?"

"Genau und ich werde Sie trockenen Fußes dorthin zur Jagd führen."

Für Fragen ließ er mir keine Zeit, und erklärte mir, ich solle viel frühstücken, denn wir kämen erst am Abend nach Hause und unterwegs gäbe es keine Gasthäuser.

Während ich aß, sprach er weiter: "Sicher fragen Sie sich, wie sie unter Wasser atmen sollen? Nicht wahr? Nun, zwei Landsleute von Ihnen haben ein Atemgerät erfunden, das ich verbessert habe. Sie werden es nachher wie einen Rucksack aufziehen. Über Schläuche gelangt Pressluft in einen Kupferhelm und so wird uns unser Spaziergang unter Wasser ermöglicht."

"Und womit schießen Sie?"

"Ebenfalls mit Pressluft. Alle Schüsse, die ich abgebe, sind tödlich! Damit schieße ich kleine, in Stahl gefasste Glasperlen ab, die jedes Tier erledigen. Aber nun lassen Sie uns die Taucheranzüge anlegen."

Ich folgte Nemo in eine Kabine neben dem Maschinenraum. Als Ned Land, der mit Conseil dazu kam, erfuhr, dass es nicht an Land ging, wurde er wütend. Widerwillig ließ er sich von zwei Männern beim Anlegen der schweren Kleidung helfen.

Kupferplatten schützten die Brust vor dem Wasserdruck und Bleischuhe ermöglichten ein Laufen auf dem Meeresboden. Wir setzten die Helme auf und wurden über eine Schleuse ins offene Meer gelassen.

Ganz leicht sanken wir auf den Grund. Kapitän Nemo ging voraus, Conseil und ich folgten dicht hinter ihm. Es ging sich, ganz gegen meine Erwartungen sehr einfach mit den schweren Gerätschaften. Gott sein Dank verloren auch sie im Wasser an Gewicht.

Wir wanderten über Muschelstaubböden in eine Ebene aus Felsen und Wasserpflanzen, weiter durch klebrigen Schlamm und danach über Algenwiesen. Uns begegneten Polypen und Korallen und zahllose Fischschwärme.

Wir erreichten einen Abgrund, den wir hinabwanderten als wir plötzlich dunkle Schatten erkannten: Die Wälder der Insel Crespo. Baumartige Pflanzen, eine Mischung aus Schlingpflanzen und Meeresgräsern ragten sich der Meeresoberfläche entgegen. Farben von rosa über grün und ocker schimmerten und täuschten Blüten vor.

Nach vier Stunden Laufzeit gab Nemo ein Zeichen zur Rast. Seltsamerweise hatte ich keinen Hunger, aber war sehr müde. Wir legten uns auf den klaren Meeresboden und schliefen sofort ein.

Weiter ging es, immer tiefer den Abhang hinab. Mittlerweile mussten wir 150 Meter unter dem Meeresspiegel sein und mussten unsere Lampen einschalten, deren Licht die Fische anlockte. Eine riesige Granitfelswand gebot uns Einhalt und wir machten uns auf den Rückweg.

Langsam, damit der Druck sich ausgleichen konnte, stiegen wir wieder hinauf. Wir erreichten eine Sandebene, die sich teilweise nur zwei Meter unter dem Meeresspiegel erhob. Da erlebte ich einen Prachtschuss, den der Gefährte des Kapitäns abgab. Ein Vogel mit weit gespannten Flügeln näherte sich uns über dem Wasser. Der Matrose legte an und traf. Das Tier fiel wie vom Blitz getroffen herab, sodass wir es bequem greifen konnten.

Es war ein wunderschöner Albatross.

Kurz bevor wir die Nautilus erreichten, gab uns Nemo ein Zeichen uns auf den Boden zu werfen. Ich hörte uns spürte, wie ungeheure Massen mit lautem Getöse über uns hinweg schwammen. Als ich erkannte, um welche Tiere es sich handelte, gefror mir das Blut in den Adern: Haie! Sie hatten uns, dank ihres schlechten Seevermögens nicht erkannt.

Bei der Nautilus angekommen, ließen wir uns die Taucheranzüge abnehmen und ich begab mich eilig in mein Zimmer und schlief sofort ein.

 

 

 

10. Kurs Südost

Am 26. November um drei Uhr früh überquerten wir den Wendekreis des Krebses. Am nächsten Tag erblickten wir die Hawaii-Inseln. Am 1. Dezember überquerten wir, immer noch auf Südostkurs den Äquator.

Es war der 11. Dezember. Ich saß lesend im Salon, als mich Conseil ans Fenster rief. Vor uns im Wasser, vom Licht der Nautilus unheimlich bestrahlt, hing ein Schiffsrumpf, der offenbar erst vor wenigen Stunden gesunken war. Im Tauwerk lagen drei tote Männer. Ein vierter stand am Steuer. Am Heck erkannte ich den Namen des Schiffes, sie hieß "Florida".

Am 15. Dezember hatten wir bereits 9 720 Seemeilen zurückgelegt.

Seine Neujahrswünsche überbrachte mir Conseil am 1. Januar 1868, während wir durchs Korallenmeer fuhren. Seit unserer Abreise waren wir jetzt 11 340 Seemeilen unterwegs. "Ein gutes neues Jahr!" In unserer Lage konnte man darunter vieles Verstehen. Natürlich wünschten wir uns die Freiheit. Das europäische Festland zu sehen, wäre wundervoll. Doch ein Jahr voller Abenteuer auf der Nautilus waren ebenfalls verlockend.

Die Küste von Neuguinea kam am 4. Januar in Sicht. Kapitän Nemo wollte durch die Meerenge, die sogenannte Torresstraße fahren. Diese Kleinstinselwelt ist voller Riffe und liegt zwischen Australien und Neuguinea und war auch wegen ihrer wilden Eingeborenen mehr als berüchtigt.

Ned Land, Conseil und ich verfolgten die Durchquerung von unserer Plattform aus. Das Meer schien zu kochen, denn überall klatschten die Wellen an die aufragenden Felsen.

"Dieser verdammte Kapitän muss seiner Sache ganz schön sicher sein", brummte Ned Land. Der dunkle Stahlkörper glitt ohne einmal anzustoßen durch die Korallenspitzen. Um 15 Uhr, wir waren keine zwei Seemeilen von der Insel Queboroar entfernt, warf mich ein Stoß zu Boden und die Nautilus stand still.

Als ich mich erhob, sah ich, wie Nemo sich mit dem Ersten Offizier beriet. Wir saßen auf einem Korallenriff fest und das in einem Gewässer, wo es zwischen Ebbe und Flut kaum einen Unterschied gab. Der Schiffsrumpf war unbeschädigt und ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

"Ein Unfall, Kapitän?"

"Ein Zwischenfall!"

"Dieser Zwischenfall kann bewirken, dass sie Ihren Schwur brechen und doch Land betreten müssen."

Nemo blickte mich kalt und fremd an. "Die Nautilus befindet sich nicht im Geringsten in Gefahr. In fünf Tagen ist Vollmond und der Wasserstand um 1,5 Meter erhöht. Sie sehen ich brauche keine Hilfe der Erde, Genosse Mond übernimmt das."

Der Kapitän drehte mir den Rücken zu und Ned Land trat neben mich. "Na, was sagt er? Muss er den Kasten verschrotten?"

"Nein. Er wartet auf den Mond."

"Auf den Mond?"

"Auf den Mond und die damit verbundene Flut, die ihn freisetzen soll."

Der Kanadier begann wieder einmal zu fluchen und als er damit fertig war, schlug er vor zu fliehen. Doch ich riet ihm dringend davon ab. In dieser Gegend gab es wilde Eingeborene, für die wir sicherlich ein schmackhaftes Mittagessen abgeben würden.

Land fügte sich widerwillig, bestand aber darauf einen Landausflug zu machen. Zu meiner Verwunderung erlaubte uns das Kapitän Nemo und lieh uns sogar sein Boot. So fuhren wir drei Tage hintereinander zur Insel Queboroar und durchstreiften die Wälder nach irdischer Nahrung.

Am letzten Tag erlegte Ned Land sogar ein Schwein und wir brieten es am Strand und genossen unser ausgezeichnetes Mahl.

"Was, wenn wir einfach nicht mehr zur Nautilus zurückkehren?", sagte Ned Land.

In diesem Augenblick fiel ein Stein neben unserem Feuerplatz nieder und zerschlug unsere Gedanken. Wir sprangen auf und erkannten, dass Eingeborene uns angriffen. Wir rannten zum Boot und flohen auf dem schnellsten Weg zurück zur Nautilus.

Beim Blick zurück sah ich mindesten einhundert Wilde, die mit lautem Kriegsgeheul bis zum Gürtel im Wasser standen.

Wieder an Bord, ging ich sofort zu Nemo, um ihm Bericht zu erstatten. Der saß an der Orgel im Salon und blieb völlig unbeeindruckt von meiner Schilderung.

"Wir schließen einfach die Luke, damit sind wir in Sicherheit", antwortete er kühl.

In dieser Nacht schlief ich sehr unruhig. Als ich am Morgen gegen sechs das Deck betrat, dass sich die Wilden stark vermehrt hatten. Auf Einbäumen waren sie der Nautilus bedrohlich nahe gekommen. Der Kapitän blieb vollkommen und teilte mir mit, dass wir am nächsten Mittag um 14.40 Uhr unsere Fahrt fortsetzen würden.

Nachts hörten wir bereits das Lärmen und Füßetrampeln der Wilden Papuas an Deck. Bis zum Mittag rührte sich niemand an Deck. um 14.30 hörte ich im Salon, ein Knirschen. Offenbar löste sich die Nautilus von der Flut getragen langsam vom Korallenboden ab.

Um 14.35 Uhr erschien der Kapitän.

"Wir fahren wieder", sagte er.

"Und die Papuas?", fragte ich.

"Kommen Sie mit!"

Bereits auf dem Gang hörten wir wildes Geheul über uns. Ned Land, Conseil und ich schlug das Herz laut, als die Luke geöffnet wurde.

Als der Deckel zurückschlug, erschienen sofort zwanzig Gesichter in der Öffnung. Jedoch der Erste, der das Treppengeländer berührte, wurde von einer unsichtbaren Macht gepackt und zurückgeworfen. Den nächsten beiden erging es ebenso.

Ned Land wollte hinauf um die restlichen Wilden zu vertreiben. Aber kaum hatte er das Geländer berührt, wurde auch er wie vom Blitz getroffen zurückgeschleudert.

Jetzt wusste ich, dass Nemo dieses Geländer elektrisch laden konnte und damit einen Zaun errichtet hatte, den niemand passieren konnte.

 

 

 

11. Der Korallenfriedhof

Am 10. Januar ging unsere Reise also weiter. Nemo beschäftige sich damit, die Temperaturen in den unterschiedlichen Meerestiefen zu messen und stellte fest, dass in tausend Metern Tiefe eine konstante Temperatur von 4,5° herrschte.

Ich fragte mich nur, für wen er diese Messungen machte - den Menschen würde er seine Forschungen mit Sicherheit nicht überlassen.

Am 18. Januar sah ich den Kapitän nach einigen Tagen wieder. Wir befanden uns südlich der Weihnachtsinseln und von Osten wehte ein starker Wind. Nemo unterhielt sich mit seinem Ersten Offizier in jener mir unverständlichen Bordsprache, während er den Horizont mit dem Fernglas absuchte.

Er stand einige Minuten völlig bewegungslos da. Plötzlich sagte er ein paar Worte, die zur Folge hatten, dass sein Offizier voller Entsetzen dreinblickte. Nemo blieb weiterhin kalt. Er gab offenbar Befehl schneller zu fahren, denn die Schraube der Nautilus kam stärker auf Touren.

Natürlich wollte ich wissen, was da vor sich ging und holte mir ein Fernglas. Ich setzte es an und im gleichen Augenblick wurde es mir aus der Hand gerissen. Nachdem ich mich umgedreht hatte, blickte ich in die entstellten Gesichtszüge des Kapitäns. Seine Fäuste waren geballt und seine gesamte Gestalt von Hass verzerrt!

In ihm kochte es, aber er zwang sich zur Beherrschung. Dann sagte er kühl: "Monsieur, ich bitte Sie nun, sich an Ihre Zusage zu halten. Ich muss Sie und Ihre Gefährten auf unbestimmte Zeit einschließen."

Ich willigte ein und stieg hinab zu Conseil und Ned Land. Dort brachte uns jemand in jene Zelle, in der wir die erste Nacht geschlafen hatten. Die Tür fiel ins Schloss und meine Gefährten bedrängten mich, ihnen zu erklären, was vorgefallen war. Aber ich konnte mir den Vorfall selbst nicht erklären. Nur so viel wusste ich, in der nächsten Zeit mussten wohl Dinge geschehen, die wir nicht wissen durften.

Wir setzten uns an den gedeckten Frühstückstisch, aber die Unsicherheit ließ bei allen keinen rechten Appetit aufkommen. Kaum, dass sich jeder einen Winkel für sich gesucht hatte, schlief Ned Land sofort ein. Auch Conseil faselte noch ungereimtes Zeug und staunte, wie schnell auch er ins Land der Träume gelangte.

Während ich noch darüber nachdachte, überfiel mich eine Art Betäubung, die mich zwang die Augen zu schließen und mir das Bewusstsein raubte.

Am nächsten Morgen erwachte ich mit erstaunlich freiem Kopf in meinem Bett in meiner Kabine. Wie war das möglich? Ich konnte mich an nichts erinnern. Meine Tür war unverschlossen und ich begab mich auf den Flur und stieg zur Plattform empor.

Dort traf ich Ned Land und Conseil, die schon länger wach waren. Auch sie konnten sich an nichts erinnern. Bis mittags war Kapitän Nemo nicht zu sehen. Erst als ich mich um 14 Uhr im Salon aufhielt, trat er plötzlich ein.

Ich hatte Erklärungen zur vergangenen Nacht erwartet, aber nichts dergleichen geschah. Nemo ging ziellos im Salon hin und her und sah übernächtigt und elend aus. Schließlich fragte er mich brüsk:

"Sie sind Arzt?"

"Ja", antwortete ich verdutzt. "Ich habe tatsächlich Medizin studiert und auch einige Jahre praktiziert, bevor ich ans Museum berufen wurde."

"Gut. Würden Sie einem meiner Leute helfen?"

"Sie haben einen Verwundeten?"

"Einen Kranken."

"Gut, ich bin bereit."

Mir war klar, dass es zwischen diesem "Kranken" und den Vorfällen von heute Nacht irgendeinen Zusammenhang geben musste. Nemo führte mich zum Heck der Nautilus und brachte mich in eine kleine Kabine. Dort lag ein etwa vierzig Jahre alter Mann, kräftig, bärtig und schwer verletzt.

Ich beugte mich über ihn und erschrak. Er hatte eine tödliche Wunde am Kopf. Ich hob die verbluteten Leintücher an und blickte auf eine zertrümmerte Schädeldecke. Der Verletzte gab keinen Laut von sich, atmete nur noch leicht und der Puls war kaum noch fühlbar. Außerdem wurden seine äußeren Glieder bereits kalt.

"Woher kommt diese Wunde?", fragte ich.

"Das ist völlig unerheblich. Nehmen Sie an, ein Maschinenteil hat ihn getroffen. Können Sie ihm helfen?"

Zuerst zögerte ich doch dann raunte ich: "Er wird binnen zwei Stunden sterben."

Nemo nahm die Hand über seine Augen, als wolle er nachdenken. Doch ich hatte die Tränen darunter gesehen.

Ich wandte mich ab.

"Sie können jetzt gehen, Professor", sagte der Kapitän scharf.

Das Sterben des Mannes und alles, was damit verbunden war, verfolgten mich bis in meine Träume.

Am anderen Morgen traf ich Nemo auf der Plattform.

"Ich werde einen Ausflug unter Wasser machen", sagte er ohne jede Begrüßung. "Wollen Sie mich begleiten?"

"Allein?"

"Ihre Gefährten dürfen gerne mitkommen."

Eine halbe Stunde später steckten wir in den Taucheranzügen und verließen die Nautilus durch die Schleuse. Außer uns waren noch zwölf Leute aus der Mannschaft dabei. Der Boden war völlig anders, als bei unserem letzten Ausflug. Wir traten auf harten Grund. Hier erstreckte sich das Reich der Korallen.

Entlang einer Korallenbank stiegen wir innerhalb von zwei Stunden in 300 Meter Tiefe hinab. Wir erreichten einen versteinerten Wald, der uns winzig erscheinen ließ. Nemo machte Halt und seine Männer bildeten einen Halbkreis.

Erst jetzt erkannte ich, dass zwei der Männer einen länglichen, in weiße Tücher gehüllten Gegenstand trugen. Wir befanden uns im Mittelpunkt einer Lichtung, die von unseren Lampen ausgeleuchtet wurde. Dort befand sich ein aus Korallen gehauenes Kreuz.

Auf einen Wink von Nemo begann einer der Männer ein Loch in den Boden zu hacken. Ich hatte verstanden. Diese Lichtung im Korallenwald war ein Friedhof. In den Tüchern lag die Leiche des gestern verstorbenen Mannes.

Als die Grube tief genug war, legten vier Männer den Leichnam vorsichtig hinein. Nemo sank auf die Knie, als wolle er beten. Wir alle folgten seiner Bewegung.

Nachdem das Grab geschlossen war, wandte Nemo sich als erster ab und trat den Rückweg an. Gegen 13 Uhr erreichten wir die Nautilus.

 

 

 

12. Perlentauchen

Für Conseil war Kapitän Nemo ein verkannter Gelehrter, der der Menschheit den Rücken zugewandt und sich in die Unterwasserwelt zurückgezogen hatte.

Ned Land sah in ihm einen gefährlichen Verrückten, einen Feind.

Mir war er mehr. Die Ereignisse der letzten Tage hatten mir gezeigt, dass Nemo die Nautilus als Raspel benutzte, mit der er die Ecken und Kanten dieser Welt, an denen er sich verletzt hatte, glätten wollte.

War er das Opfer, das sich nun als Henker aufspielte? Sollte ich ihn bewundern oder hassen? Er nannte uns seine Gäste. In Wahrheit waren wir seine Gefangenen. Für mich als Naturforscher war es das aufregendste Abenteuer, das ich bis zum Ende miterleben wollte.

Aber das konnte ich Conseil und Ned Land nicht zumuten. Ich erkannte, dass wir die nächstbeste Gelegenheit zur Flucht nutzen mussten.

Am 24. Januar steuerten wir auf die Südspitze Indiens zu.

"Indien!", rief Ned Land. "Endlich Zivilisation. Europäer, Landstraßen, Eisenbahnen. Das bedeutet die Flucht für uns, Professor!"

"Warum in Indien fliehen, wenn Europa nicht mehr weit ist?", erwiderte ich.

Am 26. Januar kreuzten wir gleich zweimal den Äquator. An diesem Tag verfolgten uns Haie; wir tauchten und öffneten die Sichtfenster. Die Tiere schossen auf unsere Glaswände zu. Da wurde die Nautilus schneller und ließ das Rudel hinter sich.

Auf der Karte machte ich am 28.Januar die Insel Ceylon aus, vor der wir aufgetaucht waren. Sie gilt als eine der schrecklichsten auf der Erde. Ich wollte in die Bibliothek, um mich genauer darüber zu informieren, als Nemo auf mich zutrat und sagte:

"Ceylon liegt vor uns, Herr Professor. Möchten Sie die Perlenfischereien besuchen?"

"Aber ja."

"Fischer werden wir keine sehen, da die erst später im Jahr mit der Arbeit anfangen. Wir fahren in den Golf von Mannar."

Ein Blick auf die Karte sagte mir, dass der Golf zwischen Ceylon und Indien lag. Nebenbei erklärte mir Nemo, dass es zwar viele Orte auf der Welt gab, an denen nach Perlen getaucht wurde, die Gegend hier aber die Ertragreichste sei. Die Taucher kamen mit Hilfe eines schweren Steins bis zu zwölf Meter in die Tiefe.

Dabei betrug die Tauchzeit ungefähr dreißig Sekunden und nicht selten tauchten sie mit Blut in Mund und Nase auf, weil der Wasserdruck zu hoch war. Diese Fischer wurden nicht alt und verdienten nur einen Sou pro gefundene Perle.

"Ich verstehe nicht, warum diese Taucher die technischen Entwicklungen nicht nutzen. Mit Taucheranzügen, wie Sie sie benutzen, Kapitän, könnten sie die Erträge vervielfachen."

"Durchaus. Aber das hier sind arme Teufel. Wir werden also morgen im Golf von Mannar wandern. Haben Sie übrigens Angst vor Haien?"

"Was soll ich darauf antworten? Bisher bin ich noch keinem in Natura begegnet."

"Das wird sich ändern. Vielleicht erlegen wir morgen sogar einen Haifisch."

Nemo wandte sich ab und mir stand der Schweiß auf der Stirn. Ich muss zugeben, dass ich große Furcht um meine Arme und Beine hatte. Während ich vor meinem inneren Auge Reihen von grobzackigen Haifischzähnen sah, kamen Conseil und Ned Land lachend herein.

"Ein fabelhafter Vorschlag vom Kapitän", rief Ned Land. "Ich habe noch nie eine Austernbank gesehen und freue mich aufs Perlen sammeln."

Ganz offensichtlich hatte Nemo kein Wort über die Haifische verlauten lassen. Und ich erwiderte: "Vielleicht wird es ja gefährlich."

"Gefährlich?"

"Na…", stammelte ich, "wenn so eine Muschel zuschnappt, während Sie noch den Finger darin haben…?

Ned Land lachte auf und Conseil eilte mir zu Hilfe. "Mein Herr versteht sich auf Muscheln!"

"Dann erzählen Sie mal!", forderte Land mich auf. "Wie ist das mit den Perlen? Wo kommen die her? Was kann man damit verdienen?"

"Wenn man es genau nimmt, ist eine Perle nichts weiter als eine krankhafte Ausscheidung einer zweischaligen Muschel. Der Kern kann ein Sandkorn sein, der über die Jahre mit Perlmuttringen ummantelt wurde."

"Und in jeder Muschel findet man nur eine Perle?"

"Keinesfalls. Es gibt welche, die sind lebende Schmuckkästchen. Man erzählt sich sogar von einer Auster, die hundertfünfzig Haifische enthalten haben soll."

"Hundertfünfzig Haifische?", fragte der Kanadier, zwischen Ehrfurcht und Misstrauen schwankend.

"Habe ich Haifische gesagt? Ich meine natürlich Perlen. Ja. Einhundertfünfzig. Aber das glaube ich nicht. Übrigens hat Kapitän Nemo hier an Bord eine Perle die bestimmt zwei Millionen Franc wert ist."

"So eine, werden wir morgen suchen", rief Ned Land.

"Ist das Ganze nicht gefährlich?", fragte Conseil.

"Ach was. Wir werden ein paar Schlucke Meerwasser verschlucken. Das ist alles", antwortete der Kanadier.

"Es soll hier Haie geben, Ned Land", sagte ich.

"Großartig. Ich bin Harpunier", sagte er gelassen.

"Und du, Conseil?"

"Ich bin der Diener meines Herrn. Wenn Monsieur sich nicht fürchten, warum dann ich?"

 

 

 

13. Der Haiangriff

Um vier Uhr früh wurden wir vom Steward geweckt. Diesmal nahmen wir das Boot, weil Nemo mit der Nautilus nicht so nah an die Austernbänke heranfahren wollte.

Es war noch dunkle Nacht, als wir losfuhren. Um 5.30 Uhr hellte sich der Horizont ganz leicht auf und um sechs Uhr war es plötzlich hell. Ohne Übergang der Morgenröte, die in tropischen Breiten ebenso fehlt, wie die Abenddämmerung.

Auf ein Zeichen des Kapitäns hielt unser Boot und ein Anker wurde herabgelassen. Wir lagen nur ungefähr einen Meter über dem Meeresboden. Wie Nemo es uns gesagt hatte, waren keine Fischer zu sehen. Es war noch einen Monat zu früh.

Wir ließen uns in unsere Gummianzüge helfen und ich fragte noch eilig, wo die Gewehre seien, als mir schon die Kupferkugel über den Kopf gestülpt wurde. Nemo drückte mir ein Messer in die Hand und meinte, das wäre ausreichend. Zu meiner Erleichterung sah ich, wie Ned Land nach seiner Harpune griff.

Mit jedem Meter, den wir tiefer stiegen, wurde meine Angst weniger. Gegen sieben Uhr hatten wir die Austernbank erreicht und sahen auf einen Blick, dass hier Millionen dieser Tiere wohnten. Sie hingen mit Muschelseide an den Felsen. Diese Austern sind runzelig und haben sehr dicke Schalen, die zwischen grün und schwarz changieren.

Die größten erreichten einen Durchmesser von fünfzehn Zentimetern. Ned Land nahm sich mit festem Griff die dicksten und steckte sie in ein kleines Netz, das er am Gürtel trug.

Nemo ließ uns aber nicht länger verweilen und so folgten wir ihm. Unser Weg war sehr hügelig und zeitweise waren wir so nah an der Wasseroberfläche, dass ich meine gestreckte Hand aus dem Wasser halten konnte.

Als wir erneut ein Stück abgestiegen waren, öffnete sich vor uns plötzlich eine ungeheure Grotte, in die Nemo ohne Zögern eintrat. Die Wände waren mit Algen tapeziert und vor uns lag ein Schacht, den wir hinabstiegen.

Am Boden lagen Felsblöcke und auf einem dieser Blöcke lag eine Auster von unwahrscheinlicher Größe. Sie umfasste zwei Meter Durchmesser! Nemo nahm sein Messer und stellte es mit einer raschen Bewegung zwischen die Schalen, sodass das Tier sich nicht schließen konnte. Dann winkte er uns heran.

Wir sahen hinein und drinnen lag in den fleischigen Falten eine Perle von der Größe einer Kokosnuss. Sie war kugelrund und wunderbar klar - ein Stück von unschätzbarem Wert.

Ich wollte sie berühren, aber Nemo hielt mich zurück und ich verstand, dass diese Perle unter seinem Schutz stand. Irgendwann, wenn sie groß genug war, würde er sie in sein Museum holen. Denn als Schmuck konnte man dieses Exemplar nicht verwenden. Welche Frau würde sich schon eine Kokosnuss umhängen, auch wenn sie mehr als zehn Millionen Franc wert wäre?

Wir machten uns auf den Rückweg. Nach zehn Minuten Marsch blieb der Kapitän plötzlich stehen und gab und Befehl, sich zu verstecken. Wir krochen hinter mehrere Felsvorsprünge und gingen in Deckung. Was kam da auf uns zu? Ein Hai? Der Schatten wurde immer größer und dann sah ich: es war ein Mensch.

Der dunkelhäutige Inder, vermutlich ein armer Kerl, der schon vor der richtigen Perlenernte auf der Suche war, tauchte mit einem Stein am Bein nach den Austern. Pro Tauchgang raffte er ungefähr ein Duzend zusammen.

Plötzlich sah ich ihn entsetzt vom Boden hochspringen, er ließ seinen Beutel fallen und strebte zur Oberfläche. Über ihm erschien der Schatten eines Hais, der sich auf den Mann stürzte.

Der konnte dem Biss noch ausweichen, aber die Schwanzflosse traf ihn und schleudert ihn zu Boden. Der Hai drehte und machte Anstalten sein Opfer zu zerfetzen - da sprang der Kapitän vor.

Ja, wirklich! Nemo stand mit dem Messer in der Hand neben dem Inder und stach dem Tier in den Bauch. Das Meer färbte sich augenblicklich rot. Der Hai bäumte sich auf. Nemo stach unablässig in den Bauch, traf aber nicht das Herz. Die Masse des Tieres drückte ihn nieder und er war gefangen.

Wahrscheinlich wäre er verloren gewesen, wenn nicht Ned Land mit einem routinierten Schuss aus seiner Harpune dem Hai mitten ins Herz getroffen hätte.

Nemo riss sich Helm und Taucheranzug ab und brachte zusammen mit Land den Inder an die Wasseroberfläche. Dann kam Ned zurück und brachte uns zum Boot, mit dem wir auf das Fahrzeug des Fischers zufuhren.

Der dunkelhäutige Mann schlug gerade die Augen auf, als wir ankamen. Auf seinem Gesicht stand entsetzlicher Schreck. Da merkte ich, dass wir noch unsere Kupferhelme trugen. Nemo stand auf, griff in seine Tasche und zog ein Säckchen Perlen heraus. Das gab er dem Inder, sprang zurück ins Boot und gab Befehl zur Nautilus zurückzukehren.

"Schönen Dank, Meister", sagte der Kapitän zu Ned Land.

"Meine Pflicht und Schuldigkeit, Kapitän!"

Und ich sah nach diesen Worten ein leises Lächeln auf den Lippen von Kapitän Nemo.

Wieder einmal war ich über das Wesen dieses Mannes verwundert. Daher sprach ich ihn darauf an. "Was die Welt Ihnen auch getan hat, Kapitän - Ihr Herz hat sie nicht vernichtet."

"Er war ein Landsmann von mir."

"Ein Landsmann?", rief ich erstaunt.

"Dieser Inder lebt in einem Land der Unterdrückung. Das macht mich ebenfalls zu einem Inder!"

So ganz verstanden hatte ich den Kapitän nicht trotzdem verzichtete ich auf weitere Fragen.

 

 

 

14. Der arabische Tunnel

Es war der 30. Januar, als die Nautilus zum Luftholen an die Oberfläche kam. Land war keines in Sicht, aber anhand der Seekarten stelle ich fest, dass wir uns der arabischen Halbinsel näherten. Wir rätselten, wohin Kapitän Nemo mit uns reisen wollte. Wenn er in den Persischen Golf einbog, befand er sich in einer Sackgasse, da der Suezdurchbruch noch nicht vollendet war.

Ich vermutete, wir würden Afrika umrunden und den Atlantik passieren, um dann wieder im Pazifik zu landen. Vier Tage trieben wir in der Nähe des Golfes von Oman, scheinbar ohne Ziel. Doch ich sollte mich irren. Am 7. Februar tauchten wir in die Gewässer des Roten Meeres ein. Dieses bibelberühmte Meer hat an vielen Stellen einen solch geringen Wasserstand, dass Nemo sich an der afrikanischen Küste halten musste, wo der Grund tiefer lag.

Ich befand mich, bei geöffneten Scheiben im Salon und bestaunte die Tierwelt, als Nemo eintrat.

"Gefällt Ihnen das Rote Meer?"

"Sehr gut. Besonders an Bord der Nautilus."

"Wissen Sie, woher dieses Meer seinen Namen hat?

"Nein."

"Es gibt Stellen, zum Beispiel in der Bai von Tor, wo das Wasser purpurfarben ist. Mikroskopisch kleine Pflänzchen geben ihre schleimige Farbe ab und sorgen so dafür."

"Das wusste ich nicht. Aber sagen Sie Kapitän, wann werden wir umdrehen? Die Fertigstellung des Suezkanal werden wir sicher nicht abwarten?"

"Wussten Sie, dass es bereits in der Zeit vor Christus einen Durchbruch gab, der mit den Jahrhunderten versandet ist? Napoleon fand in der Wüste von Suez noch die Spuren dieses Kanals."

"Und nun kommt Monsieur Lesseps und verkürzt den Seeweg von Cadiz nach Indien um neuntausend Kilometer."

"Ja, ihr Franzosen könnt stolz sein auf diesen Mann."

Während ich mich noch wunderte, wie wohlwollend Nemo über den Erbauer des Suezkanals sprach, fuhr der Kapitän fort.

"Übrigens sind wir bereits übermorgen im Mittelmeer, auch ohne den Suezkanal."

"Wie bitte? Mir wird Angst bei dem Gedanke an die Geschwindigkeit, die die Nautilus zurücklegen muss, um ganz Afrika in einem Tag zu umfahren."

"Wer sagt denn, dass wir Afrika umfahren? Ich fahre unter der Landenge von Suez durch! Da gibt es einen Tunnel. Zwar eine enge, aber doch passierbare, felsige Durchfahrt. Mir fiel auf, dass sich im Mittelmeer und im Roten Meer einige gleiche Fischarten tummelten. Also beringte ich eine große Zahl von Fischen vor Suez. Einige dieser Exemplare fand ich vor der syrischen Küste wieder. Einfach, nicht wahr? Dann tauchte ich mit der Nautilus hinab und fand die Passage."

Als ich Conseil und Ned Land von dem bevorstehenden Abenteuer erzählte, schlug sich der Kanadier mit der flachen Hand an die Stirn. "Ein Tunnel zwischen diesen beiden Meeren. Das glaube ich niemals!"

Wir befanden uns auf der Plattform und diskutieren, als Ned Land plötzlich etwas am Horizont erblickte. Die Nautilus fuhr näher ran und wir stellten fest, dass es eine Sirene, ein Säugetier aus der Gattung der Seekühe war, wie Conseil sofort klassifizierte.

Kapitän Nemo überließ uns sein Boot und Ned Land ging völlig in der Jagd nach dem Tier auf. Es war ein gefährliches Unterfangen und zwischendurch dachte ich, wir müssten umkehren, doch letztendlich nahmen wir die Sirene in Schlepptau.

Am Abend gab es Steaks, die besser als jedes Kalbfleisch schmeckten.

Am 11. Februar näherten wir uns dem Berg Sinai, der das Rote Meer in zwei Arme teilt. Nemo erklärte, dass wir gleich an der Mündung des Tunnels seien und fragte mich, ob ich mit auf die Kommandobrücke wolle.

Am Steuerrad stand ein kräftiger Mann, der in den nächsten Stunden jeden Wink des Kapitäns in Kurskorrekturen umsetzte. Wir fuhren sehr langsam, nur wenige Meter von den Felswänden entfernt. Nach Kompass und nach Gefühl.

Plötzlich trat Nemo selbst ans Steuer und die Nautilus beschleunigte, sodass ich draußen nur noch Feuerstreifen sah. Mein Herz klopfte so stark, dass mir beinahe schlecht wurde.

Um 22.35 Uhr trat der Kapitän vom Steuer zurück und sah mich an: "Das Mittelmeer", sagte er, etwas müde.

 

 

 

15. Das Mittelmeer

Der Kanadier brauchte eine Weile, bis er sich davon überzeugt hatte, dass wir uns tatsächlich im Mittelmeer befanden. Doch dann hatte er nur noch einen Gedanken: Flucht! Es kostete mich eine gute Stunde Diskussion, die damit endete, dass er bei nächster Gelegenheit schwimmend oder mit dem Boot fliehen werde.

Verdenken konnte ich es ihm nicht. Für ihn hatte diese Fahrt mit der Nautilus nicht die Faszination wie für mich als Wissenschaftler. Eines stand allerdings fest, unsere Flucht musste beim ersten Mal Erfolg haben. Nemo würde uns einen vereitelten Versuch sehr übel nehmen. Daher mussten wir die beste Gelegenheit abwarten

War Nemo misstrauisch geworden? Die nächsten Tage blieben wir die meiste Zeit unter Wasser, weitab der Küsten. Am 14. Februar näherten wir uns der Insel Kreta. Als wir damals mit der Abraham Lincoln aufgebrochen waren, hatten die Kreter gerade einen Aufstand gegen die türkische Herrschaft begonnen. Da für Nemo das Geschehen auf der Erde vor über drei Jahren stehen geblieben war, hatte ich ihm davon nichts berichtet.

Gegen Abend gesellte sich der Kapitän zu mir in den Salon und ließ die Eisenwände zurückgleiten. Er spähte aufmerksam hinaus, ebenso wie ich. Meine volle Konzentration galt den Fischen und so fuhr ich erschrocken vom Fenster zurück, als vor meiner Scheibe plötzlich eine menschliche Gestalt, ein Taucher mit einem Gurt um die Hüften, erschien.

Er ruderte kräftig mit den Armen und stieß sich, um Luft zu holen, immer wieder nach oben.

"Da! Ein Schiffsbrüchiger! Wir müssen ihn retten!"

Nemo gab mir keine Antwort, sondern gab dem Taucher ein Zeichen und der antwortete mit demselben Zeichen.

"Regen Sie sich nicht auf, Professor. Dieser Mann ist bekannt als Nikolas, der Taucher. Er verbringt mehr Zeit seines Lebens im Wasser, als auf dem Land."

Dann ging der Kapitän zu einem Schrank und öffnete ihn. Als er einen Koffer herausholte, erkannte ich, dass der Schrank mit Goldbarren gefüllt war. Woher kam dieses Gold? Was hatte Nemo vor? Er legte einen Goldbarren nach dem anderen in den Koffer, bis nichts mehr hineinpasste. Dann kamen achte Männer, und trugen den Schatz unter großer Mühe hinaus.

Nemo ließ mich einfach stehen und ich ging höchst unruhig zurück in mein Zimmer. Ich hörte noch, wie das Boot losgemacht wurde. Offenbar sollte es das Gold an seinen Bestimmungsort bringen.

"Woher hat er die Millionen?", fragte mich Ned Land, als ich ihm am anderen Morgen die Geschichte erzählte.

Auf diese Frage hatte ich keine Antwort.

Wir setzten unsere Reise fort und bereits am 18. Februar bei Sonnenaufgang passierten wir die Straße von Gibraltar. Warum diese Eile? Ahnte Nemo, was wir planten?

Der Atlantik mit seinem 25 Millionen Quadratmeilen Wasser breitete sich vor uns aus. Ned Land trat zu mir und sagte: "Ich muss Sie sprechen, Professor. Am besten in ihrem Zimmer."

Natürlich wusste ich, was er wollte. Ich ging hinab und Ned folgte mir mit einigen Minuten Verzögerung. Wir setzten uns in meinem Zimmer gegenüber und blickten uns schweigend an.

Verständlicherweise war der Kanadier verärgert über Nemos Eilfahrt durchs Mittelmeer. Aber wir fuhren immer noch entlang der spanischen Küste und kamen bald an Portugal und Frankreich vorbei. Ned starrte mich mit zusammengekniffenen Augen an. Endlich öffnete er seine Lippen und sagte:

"Heute Abend!"

"Heute Abend?", ich konnte mein Entsetzen nicht verbergen.

"Wir hatten eine passende Gelegenheit ausgemacht, die tritt nun ein. Wir nähern uns der spanischen Küste bis auf wenige Meter und es wird eine dunkle Nacht. Wir fliehen um 21 Uhr - alle drei zusammen. Der Kapitän wird in seiner Kajüte sein und vermutlich bereits schlafen. Das Boot ist bereit, ich habe sogar schon einige Lebensmittel dort gelagert."

"Da Meer ist aber sehr ungünstig heute Nacht", warf ich eilig ein.

"Das stimmt. Aber die Freiheit hat ihren Preis. Entweder wir sind heute frei oder tot. See you, Professor."

Damit ließ er mich allein und mich überkam große Angst. Angst davor, von Nemo entdeckt zu werden, Angst in den Fluten zu ertrinken, Angst den Kapitän und die Nautilus niemals wieder zu sehen und ihm sein Geheimnis nicht zu entlocken.

Die Minuten, bis es 21 Uhr wurde, verrannen nur mühsam. Ich betrachtete nochmals die unglaubliche Sammlung von Kapitän Nemo und nahm Abschied.

In meinem Zimmer zog ich Seestiefel, Otterfellmütze und den Mantel aus Muschelseide an. Viel zu früh schlüpfte ich in die Bibliothek, wo Ned Land mich erwarten sollte. Alles war dunkel und verlassen und mit einem Mal blieb das konstante Geräusch der Schiffsschraube aus. Ich spürte einen schwachen Stoß und erkannte, dass wir auf dem Grund lagen.

Hatte man uns entdeckt? Wo blieb Land? Wir konnten unmöglich fliehen. Da wurde die Bibliothek plötzlich hell erleuchtet und der Kapitän trat ein. Ohne auf meine seltsame Kleidung einzugehen, fragte er mich:

"Kennen Sie sich in der spanischen Geschichte aus, Professor?"

Ich war so erstaunt, dass ich vorerst keinen Laut von mir geben konnte. Nach Sekunden der Stille antwortete ich: "Ein wenig."

"Setzen Sie sich, ich möchte Ihnen von einer erstaunlichen Episode berichten."

Setzen hörte sich gut an, das kam meiner Verfassung sehr entgegen und so lauschte ich der Geschichte, die Kapitän Nemo mir erzählte:

Sie spielte im Jahre 1702 und handelte von einem Krieg um die Königskrone in Spanien. Holland, Österreich und England hatten sich verbündet, die Macht in Spanien an sich zu reißen. Die Spanier leisteten Widerstand, doch dieser verschlang Geld, wovon sie in Amerika genug hatten.

Ein Kapitän namens Chateau-Renaud sollte die Goldbarren nach Spanien bringen. In der Bai von Vigo traf er auf Engländer und kämpfte tapfer. Als er verlor, setzte er sein Schiff in Brand, damit die Schätze dem Feind nicht in die Hände fielen.

"Und hier, Herr Professor", Nemo stand auf und ließ die Wände zurückgleiten, "sind wir in der Bai von Vigo."

Ich spähte hinaus - das Meerwasser war hell erleuchtet und ich erkannte Taucher, die aus verfaulten Fässern und Kisten Gold, Silber und Edelsteine hoben. Nemo stand lachend neben mir.

"Schauen Sie gut hin, Professor. Wussten Sie, dass das Meer solche Schätze enthält?"

"Ich weiß sogar von diesem hier. Es gibt eine Aktiengesellschaft, die von der spanischen Regierung die Genehmigung hat, den Schatz zu heben. Die Aktionäre erhoffen sich einen Gewinn von fünfhundert Millionen Franc."

"Da kommen sie wohl zu spät. Der Rächer der Unterdrückten hat das Vermögen bereits gehoben."

 

 

 

16. Atlantis

Kaum war ich am nächsten Morgen aufgestanden, klopfte auch schon Ned Land an meine Tür.

"Der verdammte Kapitän hat genau um 21 Uhr angehalten, frag mich, was er wollte", meinte er mürrisch.

"Er besuchte seinen Bankier!"

"Was?"

"Genauer gesagt: er ging zur Bank, um Geld oder vielmehr Gold abzuheben."

Ich erzählte dem Kanadier, was ich am Vorabend gesehen hatte. Ned war wütend, dass er nicht ein paar Goldbarren erbeutet hatte, und war entschlossen, unseren Plan so schnell wie möglich umzusetzen.

"Und zwar heute Abend."

"Aber wir wissen doch gar nicht, wo wir inzwischen sind", entgegnete ich.

Gegen Mittag tauchten wir auf und von der Plattform war weit und breit nur Wasser zu sehen. Anhand der Karte im Salon stellte ich fest, dass wir nicht weit von der Insel Madeira entfernt waren, aber doch weit genug von jeglichem Festland.

Den Gedanken an Flucht musste Land vorerst aufgeben und ich war mehr als erleichtert, als er mich verließ.

Um 23 Uhr erhielt ich unerwarteten Besuch vom Kapitän, der mich zu einem, wie er sagte, ungewöhnlichen Ausflug einlud, der sehr anstrengend sein würde und uns an ein ganz bestimmtes Ziel brächte.

"Sie machen mich neugierig", sagte ich.

Wir zogen unsere Taucheranzüge über und setzten die Helme auf. Ich kam nicht einmal mehr dazu zu fragen, warum wir allein gingen, da öffnete sich bereits die Schleuse und wir sanken auf den Grund des Atlantiks in dreihundert Meter Tiefe.

Es war fast Mitternacht und stockdunkel. Wir hatten keine Lampen bei uns, aber Nemo deutete auf einen rötlichen Punkt, den ich ungefähr zwei Seemeilen von der Nautilus entfernt erkennen konnte. Es mutete an, wie ein unterseeisches Feuer und sorgte für eine Dämmerung, an die sich mein Auge schnell gewöhnte.

Unser Marsch ging abwechselnd durch felsiges und sumpfiges Gebiet und war sehr anstrengend. Wir erreichten eine Ebene und ich hatte das Gefühl, dass unter meinem Tritt morsche Knochen zersplitterten. Wo waren wir?

Das rötliche Flammenmeer am Horizont wurde immer größer und ich konnte mir nicht vorstellen, was es war. Hatte Nemo etwas damit zu tun? Hatte er etwa eine unterseeische Stadt erbaut? Bald erkannte ich, dass vor uns ein etwa zweihundertfünfzig Meter hoher Berg lag.

Nemo ging völlig sicher durch die Gänge, die von den Steinschichten am Boden vorgeschrieben wurden. Der Anstieg erforderte meine gesamten Kräfte, aber ich wurde reich belohnt. Unser Weg führte uns durch versunkene Wälder, in denen es von Langusten und Krebse nur so wimmelte.

Zwei Stunden nachdem wir von der Nautilus aufgebrochen waren, befanden wir uns nur dreißig Meter von der Spitze des Berges entfernt. Doch es ging noch weiter. Wir erreichten ein Hochplateau und nun sah ich endlich, was für ein Licht uns leuchtete.

Vor uns öffnete sich ein Schlund eines unterseeischen Kraters. Dieser Berg war ein Vulkan, der immer noch glühende Lavamassen aus seinem Innern schleuderte und das Meer meilenweit erleuchtete.

Auf den flach abfallenden Terrassen breiteten sich die Trümmer einer versunkenen Stadt aus. Eingestürzte Dächer, verfallene Tempel, zerbrochene Säulen und Reste von Hafenmauern - es mutete an, wie ein versunkenes Pompeji.

Wohin hatte Nemo mich gebracht? Er bückte sich, hob einen Stein auf und schrieb schwer leserlich an eine dunkle Wand: ATLANTIS

Mir fuhr es wie ein Blitz durch den Kopf. Es gab sie wirklich, die versunkene Stadt von der schon immer berichtet wird, aber an deren Existenz keiner der heutigen Wissenschaftler glaubte?

Ein verheerendes Erdbeben hatte den atlantischen Kontinent verschluckt und nur die höchsten Spitzen, Madeira, die Azoren, die Kanarischen und die Kapverdischen Inseln ragten noch hervor.

Nemo ließ mir sicherlich eine Stunde Zeit, die Eindrücke aufzusammeln. Erst als der Mondschein durchs Wasser drang, kehrten wir um. Im Morgengrauen erreichten wir die Nautilus und gingen schweigend in unsere Kabinen, um zu schlafen.

 

 

 

17. Das Unterwasserbergwerk

Den nächsten Tag fuhren wir durch felsiges Gebiet. Ich begab mich früh zu Bett und erwachte am anderen Morgen um acht Uhr. Am Manometer konnte ich ablesen, dass wir uns an der Wasseroberfläche befanden. Ich ging zur Lukenöffnung und stieg auf die Plattform hinaus.

Es war stockfinster! Das war unmöglich - hatte ich den gesamten Tag verschlafen? Außerdem war nicht ein Stern am Himmel zu sehen. Da rief mich die Stimme des Kapitäns.

"Ah, Sie sind es, Professor."

"Wo sind wir?"

"Unter der Erde."

"Wie kommen wir hierher?"

"Warten Sie noch einen Moment, dann werden die Lampen eingeschaltet und Sie können sich umsehen."

Ich blieb in der Dunkelheit stehen und erblickte über mir ein rundes Loch, durch das ein Lichtschein drang. Die Scheinwerfer gingen an und ich musste unweigerlich die Augen schließen. Als ich mich an die Helligkeit gewöhnt hatte, erkannte ich, dass wir in einem unterirdischen See schwammen, der einen Durchmesser von zwei Seemeilen betrug.

Der Kapitän erklärte mir, dass wir im Zentrum eines erloschenen Vulkans seien. Während ich geschlafen habe, sind wir durch einen schmalen Kanal in das Innere eingedrungen. Er nannte es seinen Haupthafen, in dem er gegen alles geschützt sei. Sowohl Orkane, als auch Menschen.

"Wozu braucht die Nautilus einen solchen Zufluchtsort? Sind Sie auf dem Meeresgrund nicht sicher genug?"

"Doch. Aber ich bin auf Elektrizität angewiesen. Hier habe ich unterseeische Kohleflöze gefunden, die Reste von Urzeitwäldern. Meine Matrosen arbeiten mit Hacke und Schaufel und bauen die Steinkohle ab. Der Dampf, der bei der Energiegewinnung entsteht, entweicht durch die Krateröffnung. Ungebetene Gäste halten die Klippen für einen tätigen Vulkan und bleiben fern."

Wir blieben die ganze Nacht im Haupthafen liegen. Erst am nächsten Morgen gab Nemo Befehl zum Auslaufen. Sein Kurs ging strikt nach Süden. Wir durchquerten den Atlantik mit solcher Geschwindigkeit, dass man meinen konnte, er wäre auf der Flucht.

Die nächsten Tage verstrichen sehr eintönig, bis zum 13. März. Da hatte der Kapitän ein neues Abenteuer auf dem Plan: Tiefenmessungen. Bis zu diesem Tag hatten wir 30 000 Seemeilen zurückgelegt. In der Gegend, in der wir uns befanden, hatte noch niemals jemand den Meeresgrund erforscht.

Die Fenster im Salon wurden freigegeben und der eiserne Rumpf der Nautilus begann dröhnend seine Tauchfahrt. Die Zeiger des Manometers drehten sich rasend schnell. Bald befanden wir uns in Tiefen, in denen es nur noch wenige Meeresbewohner gab.

In viertausend und fünftausend Meter Tiefe war das Wasser erstaunlich durchscheinend - doch war immer noch kein Grund in Sicht. Es dauerte Stunden, bis wir die sechstausend Meter erreicht hatten. Da tauchten die Spitzen schwarzer Berge auf. Wir drangen tiefer und begannen zu spüren, welchen Druck die Wassermassen auf den Stahlkörper ausübten.

"Welch ein Anblick. Zu sehen, was noch kein Mensch vor mir sah. Man müsste es zeichnen, um es nie zu vergessen."

"Möchten Sie ein Erinnerungsfoto?", fragte Nemo lächelnd.

"Was meinen Sie?"

Auf seinen Befehl erschien ein Matrose mit einer Kamera, die er vor einem der Fenster aufbaute. Er fotografierte eine felsige Urwelt, die niemals vom Sonnenlicht bestrahlt worden war. Kaum war das Bild fotografiert, da meinte Nemo:

"Wir wollen es nicht übertreiben, Professor Aronnax. Die Nautilus darf nicht zu lange einem solchen Druck ausgesetzt werden. Halten Sie sich fest!"

Doch da wurde ich bereits zu Boden geworfen. Die Schraube stand still und die Nautilus schoss wie ein prall gefüllter Ballon in die Höhe. Wir flogen über die Wasseroberfläche hinaus und landeten mit einem riesigen Aufprall in den Wogen.

 

 

 

18. Auf Walfischjagd

Ich war mir sicher, dass Nemo spätestens auf der Höhe von Kap Hoorn von seinem Südkurs abweichen würde. Doch da irrte ich mich gewaltig. Wir steuerten immer weiter dem Südpol entgegen und unsere, oder vielmehr Ned Lands Fluchtpläne gerieten in weite Ferne.

Conseil und ich befürchteten bereits, dass er gemütskrank würde, als am 14. März plötzlich ein Schwarm Walfische vor unseren Augen auftauchte.

"Ach wäre das eine Wucht, solch ein Tier zu erlegen", meinte Land sichtlich erregt.

"Fragen Sie doch den Kapitän, ob sie auf die Jagd gehen dürfen", schlug ich vor.

Kaum hatte ich ausgesprochen verschwand der Kanadier in der Luke und erschien kurze Zeit später mit dem Kapitän auf der Plattform. Der beobachtete das schwarzblaue Getümmel um die Nautilus und sagte:

"Nein. Diese Wale werden nicht gejagt nur um des Tötens willen. Sie sind harmlos, sogar nützlich und ich lasse nicht zu, dass man sie hier in den südlichen Gewässern ebenso ausrottet wie im Norden."

Die Augen von Ned Land funkelten zornig. Da setzte der Kapitän fort:

"Sehen Sie acht Seemeilen von hier die schwärzlichen Punkte?"

"Ja."

"Das sind Pottwale. Gefährliche Räuber, die fast nur aus Zähnen bestehen. Sie bedrohen diese Wale hier und daher ist es gerechtfertigt, sie auszurotten. Meister, darf ich sie einladen, mir und der Nautilus bei der Jagd zuzusehen?"

Ned Land zog verächtlich die Achseln hoch und trottete hinter dem Kapitän her. Die Nautilus tauchte und wir nahmen vor den Fenstern Platz. Was nun begann, war an Grausamkeit kaum zu übertreffen. Die Nautilus wurde zu einer tödlichen Harpune und durchtrennte zahllose Pottwale.

Das Meer färbte sich rot und bald flohen die Tiere, die noch dazu in der Lage waren. Nemo trat zu uns - er schien etwas abgekämpft.

"Na, Meister", fragte er Ned Land.

"Abscheulich", erwiderte der Kanadier. "Das war keine Jagd - das war ein Gemetzel!"

Ein Streit zwischen dem Kanadier und dem Kapitän hing in der Luft, doch da kam eine Walleiche in unser Blickfeld, die von einem Pottwal erlegt worden war. Am Zipfel einer Floss hing ein Junges, das die Mutter nicht hatte retten können.

Zwei Matrosen sprangen von der Plattform auf den Leib des Tieres und ich sah reichlich verblüfft, wie sie aus den Eutern fast drei Tonnen Milch herausmolken.

Der Kapitän reichte mir einen Schluck. Ich überwand meinen Ekel und stellte fest, dass sie von Kuhmilch kaum zu unterscheiden war. Ein Vorrat von Milch und damit auch Butter und Käse bedeuteten eine angenehme Abwechslung in unserem Speiseplan.

 

 

 

19. Am Südpol

Am 14. März entdeckte ich die ersten treibenden Eisblöcke, die zwischen sechs und sieben Metern hoch waren. Es gab keinen Zweifel mehr, Nemo hatte sich den Pol in den Kopf gesetzt, jenen Punkt, zu dem noch nie ein Mensch vorgedrungen war.

Je südlicher wir kamen, desto dichter wurde das mit Polarvögeln besiedelte Packeis. Am sechzigsten Breitengrad hörte das normale Fahrwasser auf und wir waren von Eisbrocken umgeben. Nemo steuerte weiter südlich und nutzte die kleinsten Lücken geschickt aus, die sich hinter uns wieder schlossen.

Ich muss gestehen, dass mir unser Kurs nicht sehr gegen den Strich ging. Es gab Dinge zu beobachten, die mir völlig fremd waren und in mir stieg die Erwartung, als erster Mensch einen Fuß auf den Südpol zu setzen.

Weitere zwei Tage schob und stieß sich die Nautilus durch das Eis, bis es so zusammengewachsen war, dass kein Durchkommen mehr war. Unsere Fahrt schien zu Ende.

"Und jetzt? Was wird Ihr Herr Kapitän jetzt anstellen?", fragte mich Ned Land gereizt.

"Weiterfahren wahrscheinlich."

"Wie soll er über die Eisdecke hinwegkommen?"

Der Kanadier hatte nicht unrecht. Die Nautilus konnte weder vor noch zurück und war im Begriff festzufrieren. Das bereitete mir doch Sorgen. Als Nemo an Deck erschien, fragte ich ihn, was er vorhabe.

"Ich habe vor weiterzufahren. Ich will zum Pol, mein Herr. An jenen unbekannten Punkt, an dem alle Meridiane zusammenlaufen."

"Kennen Sie den Pol bereits?"

"Nein. Wir werden ihn gemeinsam entdecken. Die Eiswände ragen hundert Meter hoch hinaus. Nach meinen Berechnungen reichen sie sechshundert Meter tief hinab. Darunter befindet sich freies Meer, das sogar immer wärmer wird, je tiefer wir gelangen. Es gibt nur eine Schwierigkeit: Wir werden für längere Zeit ohne Lufterneuerung auskommen müssen."

"Dann müssen wir eben die Reservetanks der Nautilus mit Luft füllen", entgegnete ich.

"Gut, Professor. Ich sehe, Sie leben sich in die Materie ein", antwortete Nemo ironisch.

Ich glühte vor Entdeckereifer und begab mich sofort zu Conseil und Ned Land. "Conseil, wir fahren zum Südpol!"

"Wie es Monsieur beliebt", antwortete mein Diener lahm.

Der Kanadier regierte völlig anders und beschimpfte mich, mitsamt dem Kapitän und prophezeite uns, dass wir niemals lebend zurückkehren würden.

Am Nachmittag sah ich zehn Männer mit Beilen und Pickeln, die die Nautilus frei hackten. Der Thermometer zeigt zwölf Grad unter null an - es war windstill. Um 16 Uhr wurde die Luke geschlossen, die Tauchbehälter füllten sich und wir sanken.

Laut Karte war der Pol noch zweitausend Kilometer entfernt. Mit unserer Geschwindigkeit von sechsundzwanzig Knoten konnten wir ihn in knapp achtundvierzig Stunden erreichen.

Am 19. März gab Nemo Befehl vorsichtig nach oben zu tauchen, um herauszufinden, wann die Eisdecke dünner wurde. Wir befanden uns noch vierhundert Meter unter dem Meeresspiegel. In dieser Nacht schlief ich schlecht, was auch daran lag, dass der Sauerstoff immer weniger wurde.

Um sechs Uhr morgens trat Nemo in den Salon. "Wir haben das offene Meer erreicht, Monsieur!"

Ich stürzte zur Plattform - tatsächlich. Es trieben kaum noch Eisblöcke, tausende von Vögeln zogen über uns hinweg und das Thermometer zeigte drei Grad über null.

"Sind wir am Pol?", fragte ich.

"Das weiß ich erst, wenn ich unseren Standpunkt ausgemacht habe."

Wir hielten Kurs auf eine Insel, die etwa zweihundert Meter aus dem Meer ragte. Vielleicht das Festland der Antarktis? Wir hielten und ließen das Boot ins Wasser. Es brachte uns zu fünft zur Küste, nur Ned Land blieb an Bord.

Conseil wollte als Erster an Land springen, doch ich hielt ihn zurück.

"Kapitän, die Ehre gebührt Ihnen."

"Ja, und ich setze meinen Fuß auf diesen Boden im vollen Bewusstsein, es als Erster zu tun."

Er sprang hinaus und stand lange und andächtig dort. Dann forderte er uns auf, loszulaufen. Es war mein erster "Landgang" seit vielen Monaten und ich genoss die neue Tierwelt mit Pinguinen, Albatrossen und Sturmvögeln.

Dichter Nebel machte es unmöglich, die Sonne auszumachen. Doch ohne Sonne konnten wir mit dem Stundenwinkelmesser nicht unsere Lage feststellen. Als auch noch Schneegestöber einsetzte, kehrten wir zu Nautilus zurück.

Nemo war überaus schlecht gelaunt. Es war der 19. März und er wusste, dass am 21. März die Sonne für sechs Monate nicht mehr zu sehen war! Doch wir hatten Glück am 21. März klarte es auf und pünktlich um 11.45 Uhr brach die Sonne durch. Wir wussten, wenn um 12 Uhr genau die Hälfte der Scheibe am Horizont verschwunden war, befanden wir uns am Südpol.

"Zwölf Uhr!", rief ich.

"Der Südpol", sagte Nemo gelassen und ließ mich durchs Fernglas sehen und ich sah, wie die Sonne vom Horizont in zwei Teile geschnitten wurde. Es war ein unbeschreiblicher Moment. Im Laufe der Jahrhunderte hatte sich die Menschheit nach und nach den südlichen Breitengraden genähert, doch keiner zuvor war dem Pol so nahe gekommen, wie wir!

Wir schrieben den 21. März 1868 und hatten den Südpol am neunzigsten Breitengrad erreicht. Nemo entfaltete eine schwarze Flagge, die mit einem goldenen N verziert war, und stieß sie in den Boden.

"Hiermit ergreife ich von diesem Erdteil Besitz!"

 

 

 

20. Gefangen im Eis

Ganz früh am nächsten Tag machten wir uns auf die Weiterfahrt. Bei minus zwölf Grad Celsius begann das Meer um uns herum, zu gefrieren und der Eisbrei verdichtete sich. Es war klar, dass dieses freie Becken über die Wintermonate komplett zugefroren war.

Wir tauchten auf dreihundert Meter Tiefe und fuhren nordwärts. Gegen Abend hatten wir bereits die unermessliche Eisdecke erreicht, unter der wir hinwegglitten.

Fünf Monate waren wir schon unterwegs und hatten dreiunddreißigtausend Seemeilen zurückgelegt, was mehr als der Äquator misst. In dieser Nacht schlief ich schlecht, weil mein Kopf voll war mit den Abenteuern, die wir mit Nemo erlebt hatten.

Um drei Uhr spürte ich einen heftigen Stoß, dem ein Zweiter folgte, der mich aus meinem Bett schleuderte. Meine Kabine war schräg, woraus ich folgerte, dass die Nautilus sich zur Seite geneigt hatte. Ich tastete mich in den Salon - dort brannte Licht. Die Möbel lagen am Boden nur die fest montierten Schaukästen hatten ihren Platz behalten.

Die Gemälde an der rechten Wand lagen fest an der Tapete, die der linken, pendelten mit dem unteren Rand frei. Die Nautilus musste auf der rechten Seite liegen. Ich vernahm hastige Schritte im gesamten Schiffskörper und beschloss auf Kapitän Nemo zu warten.

Doch statt ihm betraten Conseil und Ned Land den Salon. Nachdem keiner eine Erklärung hatte, lehnten wir uns an die Wände und der Kanadier vertrieb uns die Zeit mit seinen Flüchen.

Als Nemo eintrat, fragte ich sofort: "Ein Zwischenfall, Kapitän?"

"Nein. Diesmal ist es ein Unfall. Ein ungeheurer Eisblock, ein ganzer Berg, hat sich gedreht und wir sitzen in der Falle."

Mit diesen Worten begab sich der Kapitän wieder zum Kommandostand. Die Fensterwände wurden geöffnet und wir sahen, dass wir zwar im freien Wasser schwammen, aber von einem engen Eistunnel umgeben waren. Während ich mir ausmalte, was alles passieren könnte, erfolgte ein weiterer Stoß. Das Vorderteil der Nautilus war auf Widerstand getroffen.

Etwas versperrte den Tunnel. Wir merkten, dass wir rückwärtsfuhren.

"Dann nehmen wir eben den südlichen Tunnelausgang", sagte ich tonlos.

"Wenn wir da überhaupt noch rauskommen", rief Ned Land.

Ich konnte ihn nicht länger ertragen und begab mich in die Bibliothek, nahm irgendein Buch und schlug es auf. Meine Augen liefen mechanisch über die Buchstaben.

"Ein gutes Buch?" Conseil war unbemerkt zu mir getreten.

"Ja, ja, sehr interessant."

"Das dachte ich mir. Es ist das Werk von Monsieur."

"Mein Buch?"

Ich schlug es zu und las meinen Namen auf der Titelseite. Verwirrt stelle ich es wieder zurück. Das Warten dauerte Stunden und wir redeten kein einziges Wort miteinander.

Um 8.25 Uhr warf uns ein erneuter Aufprall um. Diesmal kam er von rückwärts. Ich fasste Conseil an der Hand, als der Kapitän hereintrat.

"Auch der Südeingang zu?", fragte ich.

"Ja, Monsieur. Alle Wege sind abgeschnitten."

"Aus?"

"Aus!"

 

 

 

21. Luftmangel

Der Kanadier begann augenblicklich wieder zu fluchen - Conseil schwieg und ich sah Nemo an.

"Meine Herren", sagte der Kapitän kühl, "im Augenblick gibt es zwei Arten des Todes. 1. Wir werden langsam erdrückt. 2. Wir werden langsam ersticken. Den Hungertod halte ich für ausgeschlossen, denn unsere Lebensmittel halten länger, als der Sauerstoff.

"Wieso ersticken?", rief ich unbeherrscht. "Unsere Behälter sind doch mit Luft gefüllt."

"Die reicht höchstens für zwei Tage. Wir sind schon sechsunddreißig Stunden unter Wasser. Sollte es uns gelingen, die Nautilus frei zu bekommen, müssen wir noch die Zeit rechnen, bis wir wieder auftauchen können. Ich schicke gleich meine Leute in Taucheranzügen hinaus. Sie sollen die dünnste Stelle im Eis finden."

Wir bildeten zwei Gruppen, die abwechselnd mit Pickeln und Hacken arbeiteten. In der ersten Gruppe waren der Kanadier und der Kapitän. Messungen hatten ergeben, dass wir uns durch zehn Meter dickes Eis arbeiten mussten.

Die Arbeit wurde unverzüglich in Angriff genommen. Immer nach zwei Stunden, wechselte der Arbeitstrupp. Das Wasser war eiskalt, aber die Schläge wärmten mich. Als ich nach zwei Stunden zurückkehrte, um zu essen und mich auszuruhen, spürte ich bereits den deutlichen Unterschied zwischen der reinen Luft aus dem Atemgerät und der stark kohlensäurehaltigen Luft im Innern der Nautilus.

Nach zwölf Stunden hatten wir gerade mal einen Meter Eisboden abgetragen. Bei diesem Tempo würden wir fünf Nächte und vier Tage benötigen!

In der Nacht wurde ein weiterer Meter gelöst. Als ich am Morgen in meinem Taucheranzug ins minus sieben Grad kalte Wasser stieg, bemerkte ich, dass die Seitenwände unseres Eistunnels immer dicker wurden und sich bedrohlich der Nautilus näherten.

Ich verreit meinen Kameraden nicht, was ich entdeckt hatte. Ich durfte ihren Arbeitseifer nicht lähmen. Als wir jedoch zurück an Bord waren, suchte ich sofort den Kapitän auf und erzählte ihm davon.

"Ich weiß!", antwortete er. "Eine weitere Gefahr. Ich sehe aber nicht, was wir dagegen tun könnten. Uns bleibt nur schneller zu arbeiten, als sich das übrige Eis verfestigt."

Gefüllt mit Wut und Angst griff ich zu meinem Eispickel und arbeitete an diesem Tag härter den je. Der Vorteil war, dass ich durch die Sauerstoffflaschen frische Luft bekam, die an Bord bereits bedrohlich abgenommen hatte. Als ich danach zurückkehrte, glaubte ich fast zu ersticken.

An diesem Abend öffnete Nemo zum ersten Mal die Hähne seiner Reservebehälter und ließ frische Luft herein. Ohne diese Maßnahme wären wir am Morgen wohl nicht mehr aufgewacht!

Doch bereits einen Tag später, am 27. März, es war der sechste Tag unserer Gefangenschaft, wurde der Sauerstoffanteil in der Nautilus erneut erschreckend weniger. Wenn ich nicht im Eiswasser arbeitete, lag ich leblos mit blauen Lippen auf dem Sofa in der Bibliothek.

Langsam begann ich zu begreifen, dass ich mich dem Tod stellen musste. Meine Gedanken konnte ich nicht mehr zusammenhalten. Da kamen Ned Land und Conseil mit einem Atemgerät und flößten mir einen letzten Rest Luft ein.

Ich sah auf die Uhr: elf Uhr am 28. März. Ein Blick auf die Instrumente sagte mir, dass die Nautilus mit unglaublichen vierzig Seemeilen dahinschoss, allerdings immer noch in sechs Metern Tiefe!

Zertrümmern! Das war mein erster Gedanke - da merkte ich schon, wie wir zum Manöver ansetzten. Wie ein Rammbock prallte die Nautilus gegen die Eisdecke, einmal, zweimal. Die Masse wurde brüchig und mit einem letzten Anlauf schossen wir aus dem Wasser heraus und brachen krachend in die Eisoberfläche des Meeres ein.

Erlösende Luft drang in die Räume.

 

 

 

22. Riesenhafte Meerpolypen

Nur wir drei stürzten an Deck und soffen uns voll mit der frischen Luft. Die Mannschaft blieb unsichtbar.

Die Nautilus begann eine reißende Fahrt und wir wussten wieder einmal nicht, wohin sie uns bringen würde. Am 31. März befanden wir uns auf der Höhe des Kap Hoorn, der Südspitze Südamerikas. Wir blieben im Atlantik und fuhren der Küste Südamerikas folgend in Richtung Norden.

Am 20. April fuhren wir in ungefähr fünfhundert Meter Tiefe durch riesige Tangwälder. "Das sind wahre Polypenhöhlen. Es würde mich nicht wundern, wenn wir eines dieser Tiere zu sehen bekämen", erklärte ich.

Wir unterhielten uns über riesenhafte Meerpolypen und Ned Land verwies meine Erzählungen ins Land der Märchen. Doch ich ließ nicht locker und erzählte von einem Vorfall auf der Alceton im Jahr 1861 nordöstlich von Teneriffa.

Dort hatte die Mannschaft versucht eine solche Riesenkrake zu fangen. Doch sie war so schwer, dass lediglich ihre Schwanzflosse abriss und das Tier verschwand.

"Na, das hört sich schon wahrscheinlicher an", brummte der Kanadier, "und wie groß war das Biest?"

"Etwa sechs Meter im Durchmesser?", schlug Conseil vor, der aus dem Fenster blickte.

"Ja, so etwa."

"Und hatte es acht Fangarme am Kopf, die wie Schlangen durch das Wasser wühlten?"

"Allerdings!"

"Und hervorquellende Augen sowie ein ungeheuerliches Maul?"

"In der Tat, mein lieber Conseil."

"Dann ist es entweder er, oder sein Bruder", brüllte Conseil. Wir stürzten sofort zum Fenster und ich konnte meinen Ekel kaum unterdrücken. Vor uns bewegte sich ein schreckliches Monster, das uns aus graugrünen Augen anstarrte. Jeder seiner acht Arme war mit ungefähr zweihundert Saugnäpfen bestückt, die teilweise schon an der Nautilus klebten. Das Untier war gut und gerne zwanzigtausend Kilogramm schwer.

Wahrscheinlich war es durch unsere Anwesenheit gereizt. Ich setzte mich vor das Fenster, um meine Aufzeichnungen zu machen, als die Nautilus plötzlich still stand. Der Kapitän trat in den Salon und erklärte, dass sich ein Arm in der Schaube verfangen hatte.

"Wir werden dem Tier mit der Axt auf dem Leib rücken. Wir tauchen auf und vernichten gleich seine gesamte Brut. Mit den elektrischen Kugeln können wir bei diesem weichen Fleisch nichts ausrichten, also kämpfen wir."

"Wenn Sie meine Hilfe annehmen, Kapitän, wird meine Harpune eine brauchbare Waffe sein", bot sich Ned Land an.

"Gerne!"

"Wir kommen auch mit."

Auf der Treppe standen bereits zehn Mann mit Enterbeilen bewaffnet. Conseil und ich bekamen Äxte und Ned hielt seine Harpune bereit. Als sich die Luke öffnete, drang ein Arm voller Saugnäpfe zu uns herein.

Nemo hieb auf ihn ein und trennte ihn ab. Wir stürzten nach oben, aber da griffen bereits zwei weitere Arme an. Sie griffen nach dem ersten Matrosen und rissen ihn aus dem Schiffsleib in die Höhe. Nemo war mit einem Schrei an Deck. Der Unglückliche drohte zu ersticken und rief in Todesangst um Hilfe. Zu meinem Erstaunen sprach er französisch. Er war ein Landsmann!

Er schien für immer verloren. Nemo hackte einen Arm nach dem anderen ab und wir kämpften gegen die anderen Kraken. Bestimmt hundert Arme streckten sich nach uns aus und ich hatte das Gefühl, dass für jedes abgeschlagene Glied ein neues nachwuchs.

Plötzlich traf uns eine tintenschwarze Ladung und wir konnten für eine Weile nichts sehen. Als sich die Wolke lichtete, erkannten wir, dass die Krake mit meinem Landsmann verschwunden war. Kaum hatte ich das wahrgenommen, wurde Ned von dem Schlag eines Polypen zu Boden gebracht.

Der Kapitän eilte herbei und platzierte einen geschickten Axthieb. Ned nutzte den Augenblick, sprang auf und jagte dem Tier seine Harpune ins Herz.

Der Kampf hatte ungefähr fünfzehn Minuten gedauert, dann ergriffen die übrigen Tiere die Flucht. Wir stiegen hinunter und ich sah noch, wie Nemo blutverschmiert, hoch aufgerichtet auf der Plattform stand und ins Meer starrte.

 

 

 

23. Der Orkan

Zehn Tage blieb Nemo nach diesem 20. April unsichtbar. Der Tod seines Mannschaftsgefährten hatte ihn offensichtlich stark mitgenommen, denn die Nautilus trieb scheinbar ziellos an der Meeresoberfläche.

Am 1. Mai nahmen wir plötzlich Nordkurs auf. Immer, wenn uns Land besonders nahe kam, begann Ned Land wieder von der Flucht zu sprechen. Doch die Witterung war sehr ungünstig. Der Golfstrom, dem wir seit Tagen folgten, wurde auch der Vater der Stürme genannt.

Neds Ungeduld wurde immer größer. Als wir uns seiner Heimat Kanada näherten, drängte er mich, mit dem Kapitän zu sprechen. "Lieber stürze ich mich kopfüber ins offene Meer, als dass ich länger hier bleibe!"

Der Kanadier duldete keinen Aufschub und so beschloss ich, sofort mit Nemo zu sprechen, weil mir erledigte Sachen immer lieber sind als unerledigte. Ich ging ihn mein Zimmer und horchte an der Verbindungstür. Nemo ging nebenan auf und ab. Ich klopfte und drückte die Klinke. Die Tür ging auf.

Er wandte sich zu mir und fragte: "Was wollen Sie?"

"Mit Ihnen reden."

"Sehen Sie nicht, dass ich zu tun habe? Können Sie mich nicht in Ruhe lassen? Ich lasse Ihnen doch auch diese Freiheit!"

"Ich habe etwas Wichtiges mit Ihnen zu besprechen", gab ich kühl zur Antwort.

"Möchten Sie wissen, was wirklich wichtig ist? Sehen Sie hier diese Aufzeichnungen? Das sind die gesammelten Werke meiner unterseeischen Forschungen. Außerdem befindet sich darin auch eine kurze Biografie. Wenn es Gott gefällt, werden die Menschen eines Tages all das erfahren.

Wer von uns auf der Nautilus überlebt, hat Befehl dieses Kästchen dem Meer zu übergeben."

Sein Name, seine Geschichte, sein Geheimnis? Eines Tages enthüllt ...

"Kapitän", sagte ich, "mir gefällt Ihre Idee nicht gut. Ihre Forschungen dürfen nicht dem Zufall überlassen werden. Keiner weiß, in welche Hände sie fallen werden. Meine Freunde und ich würden ihr Manuskript bewahren, wenn Sie uns die Freiheit geben."

"Die Freiheit!!!???"

"Genau darüber wollte ich mit Ihnen reden. Wir sind seit über sieben Monaten an Bord der Nautilus. Sie können uns doch nicht ewig hier festhalten", gab ich zurück.

"Monsieur Aronnax, wie ich Ihnen bereits am ersten Tag mitgeteilt habe: Wer die Nautilus betritt, verlässt sie nur tot!"

Ich versuchte noch andere Argumente, um an Nemos Herz oder wenigstens seinen Verstand zu appellieren, aber er blieb unerbittlich.

Als ich meinen Gefährten den Inhalt der Unterredung mitteilte, stand der Entschluss von Ned Land fest: wir mussten so schnell wie möglich von Bord. "Long Island!", hieß die hoffnungsvolle Parole.

Am 13. Mai kam der Orkan zum Ausbruch, der sich schon seit Tagen angekündigt hatte. Aus unerklärlichen Gründen ließ Nemo die Nautilus an der Wasseroberfläche. Er stieg sogar auf die Plattform und band sich mit einem Seil fest. Ich tat es ihm gleich.

Wolkenfetzen fegten über das entfesselte Meer. Das Wasser türmte sich auf, ohne zu brechen und warf die Nautilus von einer Seite auf die andere. Regen, gleich einem reißenden Gebirgsbach setzte ein und der Himmel war von Blitzen durchzogen. Das Getöse der Wellen wurde nur noch vom Donner übertroffen.

Mich überkam der Gedanke, dass Nemo hier draußen den Tod suchte. Mit letzter Kraft kroch ich zur Luke und ins Innere zurück. Um Mitternacht kam der Kapitän nach. Er ließ die Wasserbehälter fluten und wir sanken. Noch in zwanzig Meter Tiefe wurden wir gewaltig hin und her geworfen.

Dann aber hatten wir fünfzig Meter Tiefe erreicht und dort herrschte absolute Ruhe! Wer hätte dort unten den Orkan auf der Oberfläche vermutet?

 

 

 

24. Der Angriff

Der Sturm hatte uns sehr weit nach Osten befördert. Weder Ned Land noch der Kapitän ließen sich blicken.

Am 31. Mai beschrieb die Nautilus den ganzen Tag lang eine Reihe von Kreislinien, die mich lebhaft beunruhigten. Sie schien einen Ort zu suchen, der schwer zu finden war.

Am folgenden Tag, dem 1. Juni, machte die Nautilus dieselben Bewegungen. Ich befand mich gerade auf der Plattform. Als der Kapitän seine Aufnahme mit dem Sextanten gemacht hatte, sprach er nur ein einziges Wort: "Hier!" und stieg wieder durch die Luke hinab.

Wir sanken, und in achthundertdreißig Meter Tiefe berührten wir den Grund. Die Fensterwände im Salon glitten zurück und ich konnte eine Erhebung erkennen, die unter einer Decke weißlicher Muscheln wie unter einem Schneemantel vergraben anmutete. Als ich die Masse aufmerksam betrachtete, glaubte ich die Formen eines Schiffs ohne Masten zu erkennen, das längst gesunken war.

Aber welches Schiff lag hier?

"Früher hieß es Le Marseillais", sagte der Kapitän, der plötzlich neben mir stand, mit kalter Stimme. "Heute, am 1. Juni ist es genau vierundsiebzig Jahre her, dass dieses Schiff in einem heldenhaften Kampf unterging. Die Mannschaft versenkte sich lieber selbst, als sich dem Feind auszuliefern. In den Geschichtsbüchern nennt man das Schiff heute Le Vengeur."

"Der Rächer", rief ich.

"Jawohl - Le Vengeur, ein schöner Name."

Seine Art zu sprechen, die Dinge über die er redete, das alles machte auf mich einen tiefen Eindruck. Wahrscheinlich würde ich niemals erfahren, wer dieser Kapitän Nemo wirklich war - woher er kam - was ihn trieb. Eines war mir klar, ein unglaublicher Hass hatte ihn und seine Mannschaft dazu bewogen sich auf die Nautilus zurückzuziehen.

Man konnte nur hoffen, dass sich dieser Hass nicht eines Tages entlud.

Als wir wieder an die Oberfläche kamen und die Luken sich öffneten, hörte ich einen dumpfen Knall. "Was war das für ein Geräusch?", fragte ich Ned Land.

"Ein Kanonenschuss, Monsieur."

Ungefähr sechs Seemeilen entfernt, entdeckte ich ein Schiff, das mit voller Kraft auf uns zuhielt. Es hatte den Aufbau und die Takelage eines Kriegsschiffes, war bewaffnet und gepanzert und aus zwei Schloten stieg Rauch.

"Wenn es noch näher kommt, stürzen wir uns ins Meer und flüchten dorthin", sagte Ned Land mit zusammengepressten Zähnen.

Gerade als ich antworten wollte, traf ein Geschoss dicht neben der Nautilus ins Wasser.

"Sind die verrückt? Sehen die nicht, dass sich hier Menschen befinden?", rief ich.

"Vielleicht schießen gerade deshalb", gab Ned zur Antwort.

Da begriff ich plötzlich. Seit dem Vorfall mit der Abraham Lincoln wusste man sicher über die Existenz des Unterseebootes Bescheid. Vermutlich wurden wir seither gejagt und in jener Nacht, als Nemo uns einsperren ließ, muss ein Kampf zwischen seinen Verfolgern und ihm stattgefunden haben. Eines war klar, die Besatzung des Kriegsschiffes würde uns töten, bevor wir die Möglichkeit hatten unsere Identität darzulegen.

Immer häufiger trafen die Geschosse dicht neben der Nautilus ins Meer.

"Ich hab's!", rief der Kanadier und riss sich sein Hemd vom Leib. "Wir müssen Signale geben, dann merken sie, dass wir keine Feinde sind.

Doch er kam nicht zum Schwenken, ein furchtbarer Faustschlag streckte ihn zu Boden.

"Elender!", donnerte der Kapitän, der plötzlich hinter uns aufgetaucht war. "Ich nagele dich an die Front der Nautilus und ramme dich damit in den Rumpf dort drüben."

Ich war fassungslos. Nicht nur die Wortwahl, vor allem das totenbleiche, vom Hass zerfressene Gesicht, jagten mir große Angst ein. Er brüllte uns an, wir sollen hinuntergehen.

"Aber Kapitän, wollen Sie dieses Schiff angreifen?", fragte ich.

"Ich werde es in Grund und Boden rammen."

"Das dürfen sie nicht!"

"Spielen Sie nicht den Richter, Professor. Sie haben zufällig gesehen, was nicht für ihre Augen bestimmt war. Nun hat der Angriff begonnen und der Gegenschlag wird schrecklich. Ich bin im Recht! Ich bin der Unterdrückte. Dort ist der Unterdrücker. Durch ihn habe ich alles verloren, was mir einmal lieb und wertvoll war.

Vaterland, Frau, Kinder, Vater und Mutter. Alles zugrunde gegangen. Also schweigen Sie!"

Ich wusste jetzt, dass wir fliehen mussten. Besser im offenen Meer ertrinken, als an dieser wahnsinnigen Rache teilzunehmen.

Alle drei warteten wir in der Bibliothek den richtigen Zeitpunkt ab, bis die Nautilus langsamer wurde und Nemo zum Gegenangriff wendete. Dann wollten wir fliehen.

"Der Augenblick ist da", rief Ned Land. "Gott steh uns bei. Jetzt raus."

Als wir die Tür zur Bibliothek öffneten, hörten wir, wie der Lukendecken zufiel. Zu spät!

Ich spürte, wie wir sanken, und war wie gelähmt. Es blieb uns nur die Katastrophe zu erwarten. Die Nautilus nahm Anlauf und dann spürte ich einen Stoß. Wir hörten Knirschen, Kratzen - offenbar waren wir durch den Schiffsrumpf gedrungen, wie eine Nadel durch ein Segeltuch.

Blindlings stürzte ich mich in den Salon. Dort stand Nemo und starrte aus dem Fenster. Ich trat neben ihn und musste zusehen, wie in nur zehn Metern Entfernung der aufgeschlitzte Rumpf mit seiner gesamten Mannschaft unterging.

Das riesenhafte Schiff sank in die unendliche Tiefe des Meeres. Die Nautilus trieb davon.

Als alles zu Ende war, ging der Kapitän auf die Tür seines Zimmers zu, öffnete und trat ein. Ich folgte ihm mit den Augen.

An der hintersten Wand, über den Bildern seiner Helden, sah ich das Porträt einer noch jungen Frau neben zwei kleinen Kindern. Kapitän Nemo betrachtete sie einige Augenblicke, breitete die Arme nach ihnen aus und kniete schluchzend nieder.

 

 

 

25. Der Mahlstrom

Die Läden fuhren vor die Fenster, aber im Salon blieb es finster. Ich rannte auf der Flucht vor Nemo in mein Zimmer.

Die Nautilus schoss mit hoher Geschwindigkeit Richtung Norden. Ich schätze, dass diese Fahrt ungefähr zwanzig Tage dauerte. In dieser Zeit ließ sich weder die Besatzung noch der Kapitän blicken.

Waren Nemo doch Selbstzweifel wegen seines abscheulichen Handelns gekommen? Dass sein Herz kein Eisblock war, hatte ich auf unserer Reise immer wieder beobachten können. Hatte er erkannt, dass er mit seiner Rache zu weit gegangen war?

Als ich eines Morgens aus quälenden Träumen erwachte, erkannte ich Ned Land über mich gebeugt. Er flüsterte:

"Wir fliehen!"

"Wann?"

"Heute Nacht. Es scheint an Bord keine Überwachung mehr zu geben. Alles macht mir einen sehr verstörten Eindruck. Die Gelegenheit ist günstig. Ich habe beim Auftauchen Land gesehen. Ich weiß nicht, wo wir sind, aber die zwanzig Seemeilen schaffen wir."

"Ja, das schaffen wir. Und selbst, wenn das Meer uns zu sich holt - ich will heute fliehen!", sagte ich.

"Lebensmittel und Wasser habe ich bereits auf das Beiboot gebracht."

"Gut, ich bin dabei!"

Wir verabredeten uns für 22 Uhr beim Boot, um die Dunkelheit zu nutzen. Der Tag wurde unendlich lange. Ich ging durch den Salon und die Bibliothek und betrachtete noch einmal die wertvollen Schätze. Würde sie je ein anderer Mensch zu sehen bekommen?

Zurück auf meinem Zimmer, zog ich feste Kleidung an und verbarg meine Aufzeichnungen an meiner Brust. Mein Herz klopfte aufgeregt. Jetzt durfte mich Nemo nicht sehen. Ich trat an die Tür zu seinem Zimmer und vernahm Schritte.

Für einen Moment war ich versucht, ihm entgegenzutreten. Doch dann warf ich mich auf mein Bett und wartete ab. Gegen 21:30 hörte ich plötzlich Orgelklänge. Mich durchfuhr ein eisiger Schreck. Nemo befand sich im Salon! Durch den musste ich gehen, um zum Boot zu gelangen.

Er würde mich sehen! Würde er mit mir reden? Erkennen, was wir vorhatten?

Es war gleich 22 Uhr. Ich musste los. Ich stand auf, öffnete die Tür, ging durch den Gang zum Salon. Dort war es dunkel. Nemo spielte, als wäre er nicht von dieser Welt und bemerkte mich nicht. Als ich an der Türe zur Bibliothek angelangt war, hörte ich den Kapitän plötzlich seufzen. Ich drehte mich um und sah, wie er auf mich zukam. Er schien zu schweben wie ein Gespenst.

Er schluchzte und murmelte: "Mach-end-o-herr-mach-ende!" Ich floh.

"Kommen Sie", rief der Kanadier leise.

Wir zwängten uns durch die Luke ins Boot. Gerade lockerte Ned die Schraube, mit der das Boot und die Nautilus verbunden waren, da hörten wir Stimmengewirr. Waren wir aufgeflogen?

Es wurde lauter unter uns und aus all dem Rufen erkannte ich ein fürchterliches Wort heraus: Mahlstrom!

Wir befanden uns also an der gefährlichsten Stelle des Meeres, vor der norwegischen Küste. Ein gigantischer Wasserwirbel riss hier alles in die Tiefe. Noch nie ist ihm ein Schiff entkommen. Es ist ein fünfzehn Kilometer breites Feld, das aus zwei Strömungen entstand, die hier zusammenfließen.

"Wir müssen noch an der Nautilus hängen bleiben", schrie Ned Land. Da wurden wir bereits vom Strudel mitgerissen. Der Sog drückte uns an die Wände des Bootes. Der Kanadier wollte die Schraube wieder festziehen, doch da rissen wir vom Leib der Nautilus ab.

Ich schlug mit dem Kopf auf und verlor die Besinnung.

 

 

 

26. Das Ende der Reise

Damit ging unsere Reise unter den Meeren zu Ende. An die Nacht im Mahlstrom kann ich mich nicht mehr erinnern. Was vielleicht auch besser so ist. Ich und meine beiden Freunde erwachten in der Hütte eines Fischers von den Lofoten. Wir umarmten uns.

Bis zu unserer Heimreise müssen wir und noch etwas gedulden, denn die Verbindungen zwischen dem hohen Norden und dem restlichen Europa sind schlecht. Nur alle zwei Monate kommt ein Dampfboot auf dem Weg zum Nordkap hier vorbei.

So habe ich viel Zeit, meine Notizen durchzusehen, die ich in den letzten Monaten gemacht habe. Alles ist vollständig. Es ist der Bericht einer Reise in ein Element, das den Menschen bisher weitestgehend verschlossen war.

Aber wird man mir glauben? Es ist mir gleichgültig. In neun Monate haben wir zwanzigtausend französische Meilen, also fünfzigtausend Seemeilen zurückgelegt. Was wurde wohl aus der Nautilus? Ist sie dem Mahlstrom entkommen? Hatte Nemo sie absichtlich in den Meeresschlund gesteuert?

So viele Fragen blieben offen. Ob die Fluten je seine Manuskripte frei geben und die Welt seinen wahren Namen erfahren würde?

Ich hoffe es!

Es gibt nur zwei Menschen, die die Meerestiefen erforscht haben. Der eine ist Kapitän Nemo. Der andere bin ich, Professor Aronnax.