Atalante
- Autor: Schwab, Gustav
Ein Mann hatte sich lange Zeit einen männlichen Nachkommen gewünscht. Das Schicksal gab ihm aber ein kleines Töchterchen an die Hand. Tief enttäuscht setzte der Vater das hilflose Kind in den Bergen aus.
Eine Bärin, der man die Jungen getötet hatte, fand das wimmernde Kind. Sie nahm das Kind vorsichtig in den in den Rachen und schleppte es zu ihrer Höhle. Dort säugte sie das kleine Wesen mit ihrer Milch.
Als die Bärin eines Tages wieder hungrig umherstreifte, kamen Jäger an der Höhle vorbei. Sie fanden das einsame Kind und nahmen es mit sich. Nun wuchs Atalante in den Bergwäldern Arkadiens [1] zu einer Jungfrau heran und füllte die Herzen der Jäger mit väterlichem Stolz. Denn Atalante war anmutig und stark und flink wie das schnellste Reh. Die Sonne hatte ihr das Antlitz und die Glieder gebräunt, und doch war ihre Schönheit nicht geringer als die einer Waldnymphe [2]. So lebte sie in der einsamen Weite des Gebirges, und verschmähte die Hand eines jeden Gatten.
Die größte Leidenschaft von Atalante war es, zu Fuß mit dem Speere den Hirsch zu jagen. Doch die schöne Jägerin blieb dabei nicht alleine. Zwei Zentauren [3] entdeckten sie dabei und beschlossen, sie zu entführen. Als die Jägerin sie aber näher kommen sah, schoss sie beide mit ihren Pfeilen nieder. Am Abend saß Atalante mit den väterlichen Jägern zusammen, und berichtete von ihrer Tat. Die Jäger aber erzählten es jedem einsamen Wanderer weiter.
So gelangte die Kunde von der tapferen Jägerin auch zum leiblichen Vater von Atalante. Dieser war schon lange von seinem Gewissen geplagt und wollte seine Tochter aus der Einsamkeit befreien. Er musste lange die Bergwälder durchstreifen, bis seine Tochter endlich vor ihm stand. Doch dann nahm er sie zu sich und redete immer wieder auf sie ein, sie möge sich mit einem tüchtigen Helden vermählen. Atalante aber weigerte sich, denn sie dachte an eine alte Weissagung. Eine Seherin war ihr einst im Walde begegnet und sie sprach: "Fliehe vor dem Gatten, Atalante, und du entfliehst ihm dennoch nicht!"
Der Vater wollte aber nicht nachlassen, darum schlug Atalante am Ende einen Wettlauf vor. Wenn es einem Bewerber gelingen sollte, sie zu besiegen, dann werde sie ihm als Gemahlin folgen. Unterlegene Bewerber sollten aber des Todes sein. Dennoch meldeten sich viele junge Männer, die es mit der schönen Jungfrau aufnehmen wollten.
Unter den Zuschauern saß auch ein ansehnlicher Jüngling mit Namen Hippomenes. Er tadelte die Torheit der Bewerber mit lauten Worten. Da erschien Atalante auf der Laufbahn und Hippomenes verstummte. Leise sprach er zu sich selbst: "Verzeiht mir, dass ich euch beschimpft habe! Der Lohn, für den ihr euer Leben wagt, war mir nicht bekannt. Wer diese herrliche Jungfrau erringt, muss den Göttern gleich sein."
Jetzt begann der Wettlauf. Die kühne Atalante gönnte den siegessicheren Bewerbern einen großen Vorsprung. Doch dann flog sie schnell wie ein Pfeil an ihnen vorbei. Schon stand sie jauchzend am Zielpfahl, als die Besiegten niedergeschlagen ihr folgten. Sie hatten den Tod vor Augen.
Da trat Hippomenes an den Pfahl und rief. "Es ist nicht ruhmreich, Atalante, wenn du den Wettkampf mit Schwächeren suchst? Komm, und wage es mit mir! Ich bin Hippomenes, ein Urenkel von Poseidon [4], dem Meeresfürsten! Sollte ich unterliegen, so wird dein Ruhm um so größer sein."
Atalante blickte dem Redner in sein schönes Antlitz: "Oh Jüngling", begann sie, "lass ab von deinem Vorsatz! Jedes Mädchen wird sich glücklich preisen, dich als Gatten heimzuführen. Ich aber kann dich nicht schonen, wenn du den Wettlauf mit mir wagst."
Hippomenes aber betete heimlich zur Göttin der Liebe: "Heilige Aphrodite, gib mir Kraft und stehe mir bei!" Die Göttin vernahm sein Flehen und trat für alle unsichtbar an Hippomenes heran. Sie schenkte ihm drei goldene Äpfel und sagte ihm, wie er die köstlichen Früchte gebrauchen sollte.
Dann ertönte die Trompete und der Wettlauf begann zum zweiten Male. Vom Beifall der Menge ermuntert eilte Hippomenes voran. Er bot alle Kräfte auf, doch seine Gegnerin war ihm schon dicht an den Fersen. Da ließ der Jüngling einen goldenen Apfel fallen. Atalante stutzte und nahm die kostbare Frucht auf. So gewann Hippomenes einen beträchtlichen Vorsprung, der aber bald wieder schrumpfte.
Nun warf der Jüngling den zweiten Apfel auf die Bahn. Atalante konnte abermals nicht widerstehen, während Hippomenes sich schon dem Ziele näherte. Doch auch dieser Vorsprung reichte nicht ganz zum Sieg.
Kurz vor dem Ziel machte sich Atalante daran, den Jüngling hinter sich zu lassen. Da warf Hippomenes ihr den letzten Wunderapfel vor die Füße. Die Jungfrau hielt wieder inne und griff nach der herrlichen Frucht. Nun war Hippomenes aber endlich am Ziel und eine jauchzende Menge empfing als strahlenden Sieger.
Nicht ungern, so sagt man, folgte die Besiegte dem Hippomenes als Gattin, und niemals gab es ein zärtlicheres Paar.
Erklärungen:
[1] Arkadien ist eine Berglandschaft im Süden von Griechenland. Sie liegt im Zentrum des Peloponnes.
[2] Nymphen sind Naturgottheiten, die als Töchter des Zeus gelten.
[3] Zentauren sind Fabelwesen, halb Mensch und halb Pferd. Manche sind freundlich und gebildet, andere wild und unbeherrscht.
[4] Poseidon ist der Gott des Meeres. Sein Wahrzeichen ist der Dreizack. Bei den Römern steht Neptun an seiner Stelle.