Arachne
- Autor: Schwab, Gustav
In einer kleinen Stadt in Lydien [1] wohnte eine junge Frau mit dem Namen Arachne. Ihre Mutter war schon früh gestorben, und der Vater hatte nur ein bescheidenes Einkommen als Purpurfärber [2]. Dennoch pries man Arachne, da sie als Weberin alle anderen Weiber übertraf.
Selbst die Nymphen [3] der benachbarten Gebirge und Flüsse kamen in die ärmliche Hütte von Arachne, um ihre Kunst und ihren Fleiß zu bestaunen. Es war ihnen so, als ob Pallas Athene [4] selbst die junge Weberin unterwiesen hätte.
Von diesen Dingen wollte Arachne aber nichts wissen und rief: "Nicht von der Göttin lernte ich diese Kunst! Möge sie doch kommen und sich mit mir messen. Besiegt sie mich, so will ich jede Strafe erdulden!"
Athene hörte diese Prahlerei mit Unwillen und nahm die Gestalt eines alten Mütterchens an. So trat sie in die Hütte von Arachne und sprach: "Das Greisenalter bringt auch Gutes mit sich, denn mit den Jahren reift die Erfahrung. Darum verachte nicht meinen Rat! Glaube nur, dass du die Wolle kunstvoller weben kannst als alle Sterblichen, aber erhebe dich nicht über eine Göttin. Flehe sie lieber um Verzeihung an, dann wird dir gerne vergeben."
Mit finsteren Blicken ließ Arachne den Faden fahren und rief: "Du bist töricht, Alte! Mir scheint, die Last der Jahre hat dir den Sinn verdreht. Solches Geschwätz predige lieber deiner Tochter vor. Warum kommt denn Athene nicht selbst? Warum meidet sie den Wettstreit mit mir?"
"Sie ist schon da!", rief die zornige Göttin und zeigte sich plötzlich in ihrer wahren, erhabenen Gestalt. Arachne errötete vor Schreck, doch sie blieb bei ihrem verwegenen Plan, die Göttin im Wettstreit zu fordern.
Alsbald stellten beide einen Webstuhl auf und begannen die kundigen Hände zu regen. Purpur und tausend andere Farben webten sie kunstvoll ineinander, auf dass sie das Auge verwirren. Auch goldene Fäden liefen hindurch und schmückten die wundersamen Gebilde.
Athene bildete den Felsen der athenischen Burg und ihren Streit mit dem Meeresgott nach. Auf der einen Seite stand Poseidon, wie er den riesigen Dreizack in den Felsen stößt. Ihm gegenüber aber erschien sie selbst, mit Schild und Lanze gewappnet, den Helm auf dem Haupte. Mit der Spitze ihres Speeres trieb sie den Ölbaum aus dem kargen Boden, zum Staunen der Götter und zum Wohle des Landes. So webte Athene ihren eigenen Sieg in das Gespinst. In die vier Ecken aber stellte sie vier Menschen, die durch Hochmut ein trauriges Ende nahmen.
Arachne dagegen webte mancherlei Bilder, mit denen sie die Götter zu verhöhnen trachtete. So auch den Zeus [5], wie er als Stier, als Adler oder als Schwan verwandelt die Töchter der Menschen verführte. Dies alles umrankte ein Kranz aus Efeu, der mit Blumen durchflochten war.
Als Arachne ihr Werk vollendet hatte, konnte selbst Athene das Werk nicht tadeln. Mit Entrüstung sah sie aber den gottlosen Sinn und zerriss die frevelhaften Bilder. Dann schlug die Göttin dreimal mit ihrem Weberschifflein Arachne auf die Stirne. Dies ertrug die junge Weberin nicht und verfiel dem Wahnsinn.
Schon war sie dabei, sich mit einem Seil zu erhängen, da sprach die mitleidige Athene: "Du sollst leben! Für deine Verwegenheit aber sollst du und dein ganzes Geschlecht auf ewig am Faden hängen!" Mit diesen Worten verschwand die Göttin und die junge Weberin verwandelte sich. Ihre Haare verschwanden, auch Nase und Ohren, und sie schrumpfte zu einem winzigen Tier zusammen. Nunmehr übte sie als Spinne, Faden um Faden spinnend, ihre alte Kunst immerfort.
Erklärungen:
[1] Lydien ist ein Landschaft, die Griechenland im Osten gegenüberliegt. Heute gehört diese Landschaft zur Türkei.
[2] Purpur ist ein kostbarer Farbstoff, der aus Meeresschnecken gewonnen wird. Aus 12.000 Schnecken lassen sich nur wenige Gramm Purpur gewinnen. Darum konnten sich früher nur die Reichen und Mächtigen Purpurgewänder leisten.
[3] Nymphen sind Naturgottheiten, die als Töchter des Zeus gelten.
[4] Athene ist eine Tochter von Zeus. Sie ist die Göttin der Weisheit, steht aber auch für heldenhaften Kampf und Sieg. Das heilige Tier der Athene ist die Eule.
[5] Zeus ist der oberste Gott der Griechen, der Vater der Götterfamilie.