Am Sonntag, wenn's läutet
- Autor: Spyri, Johanna
Heidi stand unter den wogenden Tannen und wartete auf den Großvater, der mitgehen und den Koffer vom Dörfli heraufholen wollte, während sie selbst bei der Großmutter wäre. Das Kind konnte es fast nicht erwarten, die Großmutter wieder zu sehen und zu hören, wie ihr die Brötchen geschmeckt hätten. aber die Wartezeit wurde Heidi nicht langweilig, weil sie nicht genug bekommen konnte von den heimatlichen Tönen, von dem Tannenrauschen über ihr und sie genoss den Duft und das Leuchten der grünen Weiden und der goldenen Blumen darauf.
Jetzt trat der Großvater aus der Hütte, schaute noch einmal rings um sich und sagte dann mit zufriedenem Ton: "So, nun können wir gehen."
Denn es war Sonnabend heut, und an dem Tage machte der Alm-Öhi alles sauber und in Ordnung in der Hütte, im Stall und ringsherum; das war seine Gewohnheit, und heut hatte er den Morgen dazu genommen, um gleich nachmittags mit Heidi ausgehen zu können, und so sah nun alles ringsherum gut und zu seiner Zufriedenheit aus. Bei der Geißenpeter-Hütte trennten sie sich, und Heidi sprang hinein. Kaum hatte die Großmutter ihren Schritt gehört, rief sie ihr liebevoll entgegen: "Kommst du, Kind? Kommst du wieder?"
Dann erfasste sie Heidis Hand und hielt sie ganz fest, denn immer noch fürchtete sie, das Kind könnte ihr wieder entrissen werden. Und nun musste die Großmutter erzählen, wie die Brötchen geschmeckt hätten, und sie sagte, sie habe es sich so schmecken lassen, dass sie meine, sie sei heute so kräftig wie lang nicht mehr. Peters Mutter fügte hinzu, die Großmutter habe vor lauter Sorge, sie werde zu bald fertig damit, nur ein einziges Brötchen essen wollen, gestern und heut zusammen, und sie käme gewiss noch ziemlich zu Kräften, wenn sie so acht Tage lang hintereinander jeden Tage eines essen könnte. Heidi hörte der Brigitte mit Aufmerksamkeit zu und blieb jetzt noch eine Zeit lang nachdenklich. Nun hatte sie aber eine Lösung gefunden. "Ich weiß schon, was ich mache, Großmutter", sagte Heidi in freudigem Eifer; "ich schreibe der Klara einen Brief und dann schickt sie mir gewiss noch einmal so viel Brötchen, wie da sind, oder auch zweimal so viele, denn ich hatte schon einen großen Haufen dieser Brötchen im Schrank gesammelt; als man mir sie weggenommen hatte, sagte Klara, sie gebe mir genau so viele wieder, und das tut sie schon."
"Ach Gott", sagte die Brigitte, "das ist eine gute Meinung; aber denk, sie werden auch hart. Wenn man nur hier und da etwas Geld übrig hätte, der Bäcker unten im Dörfli macht auch solche, aber ich vermag kaum das schwarze Brot zu bezahlen."
Jetzt schoss ein heller Freudenstrahl über Heidis Gesicht: "Oh, ich habe furchtbar viel Geld, Großmutter", rief sie jubelnd aus und hüpfte vor Freude in die Höhe, "jetzt weiß ich, was ich damit mache! Alle, alle Tage musst du ein neues Brötchen haben und am Sonntage zwei, und der Peter kann sie heraufbringen vom Dörfli."
"Nein, nein, Kind!", wehrte die Großmutter; "das kann nicht sein, das Geld hast du nicht dazu bekommen, du musst es dem Großvater geben, er sagt dir dann schon, was du damit machen musst."
Aber Heidi ließ sich nicht stören in ihrer Freude, sie jauchzte und hüpfte in der Stube herum und rief ein übers andere Mal: "Jetzt kann die Großmutter jeden Tag ein Brötchen essen und wird wieder ganz kräftig, und - oh, Großmutter", rief sie mit neuem Jubel, "wenn du dann so gesund wirst, so wird es dir gewiss auch wieder hell, es ist vielleicht nur, weil du so schwach bist."
Die Großmutter schwieg still, sie wollte die Freude des Kindes nicht trüben. Bei ihrem Herumhüpfen fiel Heidi auf einmal das alte Liederbuch der Großmutter in die Augen, und es kam ihr ein neuer freudiger Gedanke: "Großmutter, jetzt kann ich auch ganz gut lesen; soll ich dir einmal ein Lied lesen aus deinem alten Buch?"
"O ja", bat die Großmutter freudig überrascht; "kannst du das auch wirklich, Kind, kannst du das?"
Heidi war auf einen Stuhl geklettert und hatte das Buch mit einer dicken Staubwolke heruntergezogen, denn es hatte lange unberührt da oben gelegen; nun wischte Heidi es sauber ab, setzte sich damit auf ihren Schemel zur Großmutter hin und fragte, was sie nun lesen solle.
"Was du willst, Kind, was du willst", und mit gespannter Erwartung saß die Großmutter da und hatte ihr Spinnrad ein wenig von sich geschoben.
Heidi blätterte und las leise hier und da eine Linie: "jetzt kommt etwas von der Sonne, das will ich dir lesen, Großmutter." Und Heidi begann und wurde selbst immer eifriger und immer wärmer, während sie las:
"Die güldne Sonne
Voll Freud und Wonne
Bringt unsern Grenzen
Mit ihrem Glänzen
Ein herzerquickendes, liebliches Licht.
Mein Haupt und Glieder
Die lagen darnieder;
Aber nun steh ich,
Bin munter und fröhlich,
Schaue den Himmel mit meinem Gesicht.
Mein Auge schauet,
Was Gott gebauet
Zu seinen Ehren,
Und uns zu lehren,
Wie sein Vermögen sei mächtig und groß.
Und wo die Frommen
Dann sollen hinkommen,
Wenn sie mit Frieden
Von hinnen geschieden
Aus dieser Erde vergänglichem Schoß.
Alles vergehet,
Gott aber stehet
Ohn alles Wanken,
Seine Gedanken,
Sein Wort und Wille hat ewigen Grund.
Sein Heil und Gnaden
Die nehmen nicht Schaden,
Heilen im Herzen,
Die tödlichen Schmerzen,
Halten uns zeitlich und ewig gesund.
Kreuz und Elende -
Das nimmt ein Ende,
Nach Meeresbrausen
Und Windessausen
Leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht.
Freude die Fülle
Und selige Stille
Darf ich erwarten
Im himmlischen Garten,
Dahin sind meine Gedanken gericht'."
Die Großmutter saß still da mit gefalteten Händen, und ein Ausdruck unbeschreiblicher Freude, so wie ihn Heidi nie an ihr gesehen hatte, lag auf ihrem Gesicht, obschon ihr die Tränen die Wangen herab liefen. Als Heidi schwieg, bat sie mit Verlangen: "Oh, noch einmal, Heidi, lass es mich noch einmal hören:
Kreuz und Elende
Das nimmt ein Ende"
Und das Kind fing noch einmal an und las in eigener Freude und Verlangen:
"Kreuz und Elende
Das nimmt ein Ende,
Nach Meeresbrausen
Und Windessausen
Leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht.
Freude die Fülle
Und selige Stille
Darf ich erwarten
Im himmlischen Garten,
Dahin sind meine Gedanken gericht'."
"O Heidi, das macht hell! Das macht so hell im Herzen! Oh, wie hast du mir gut getan, Heidi!"
Ein ums andere Mal sagte die Großmutter die Worte der Freude, und Heidi strahlte vor Glück und musste sie nur immer ansehen, denn so hatte Heidi die Großmutter nie gesehen. Sie hatte gar nicht mehr das alte trübselige Gesicht, sondern schaute so freudig und dankend auf, als sähe sie schon mit neuen, hellen Augen in den schönen himmlischen Garten hinein.
Jetzt klopfte es am Fenster, und Heidi sah den Großvater draußen, der ihr winkte, mit heimzukommen. Heidi folgte schnell, aber nicht ohne der Großmutter zu versichern, morgen komme sie wieder, und auch wenn sie mit Peter auf die Weide gehe, so komme sie doch im halben Tag zurück; denn dass Heidi der Großmutter wieder hell machen konnte und sie wieder fröhlich wurde, das war nun für Heidi das allergrößte Glück, das sie kannte, noch viel größer, als auf der sonnigen Weide und bei den Blumen und Ziegen zu sein. Die Brigitte lief Heidi zur Tür nach mit Rock und Hut, dass sie ihre Sachen mitnehme. Den Rock nahm sie auf den Arm, denn der Großvater kenne sie jetzt schon, dachte sie bei sich; aber den Hut wies Heidi hartnäckig zurück, die Brigitte sollte ihn nur behalten, sie selbst setze ihn nie, nie mehr auf den Kopf. Heidi war so erfüllt von ihren Erlebnissen, dass sie gleich dem Großvater alles erzählen musste, was ihr das Herz erfreute: dass man die weißen Brötchen auch unten im Dörfli für die Großmutter holen könne, wenn man nur Geld habe, und dass es der Großmutter auf einmal so hell und wohl geworden war, und wie Heidi das alles zu Ende geschildert hatte, kehrte sie wieder zum Ersten zurück und sagte ganz zuversichtlich: "Gelt, Großvater, wenn die Großmutter schon nicht will, so gibst du mir doch alles Geld in der Rolle, dass ich dem Peter jeden Tag ein Stück geben kann zu einem Brötchen und am Sonntag zwei?"
"Aber das Bett, Heidi?", sagte der Großvater; "ein rechtes Bett für dich wäre gut, und nachher bleibt schon noch für manches Brötchen."
Aber Heidi ließ dem Großvater keine Ruhe und bewies ihm, dass sie auf seinem Heubett viel besser schlafe, als sie jemals in ihrem Kissenbett in Frankfurt geschlafen habe, und bat so eindringlich und unablässig, dass der Großvater zuletzt sagte: "Das Geld ist dein, mach, was dich freut; du kannst der Großmutter manches Jahr lang Brot holen dafür."
Heidi jauchzte auf: "O juhe! Nun muss die Großmutter nie mehr hartes, schwarzes Brot essen, und, o Großvater! Nun ist doch alles so schön wie noch nie, seit wir leben!", und Heidi hüpfte hoch auf an der Hand des Großvaters und jauchzte in die Luft hinauf wie die fröhlichen Vögel des Himmels. Aber auf einmal wurde Heidi ganz ernsthaft und sagte: "Oh, wenn nun der liebe Gott gleich auf der Stelle getan hätte, was ich so stark erbeten habe, dann wäre doch alles nicht so geworden, ich wäre nur gleich wieder heimgekommen und hätte der Großmutter nur wenige Brötchen gebracht und hätte ihr nicht lesen können, was ihr so gut tut; aber der liebe Gott hatte schon alles ausgedacht, so viel schöner, als ich es wusste; die Großmama hat es mir gesagt, und nun ist alles so gekommen. Oh, wie bin ich froh, dass der liebe Gott nicht nachgab, als ich so bat und jammerte! Aber jetzt will ich immer so beten, wie die Großmama sagte, und dem lieben Gott immer danken, und wenn er etwas nicht tut, das ich erbitten will, dann will ich gleich denken: Es geht gewiss wieder wie in Frankfurt, der liebe Gott denkt gewiss etwas viel Besseres aus. Aber wir wollen auch alle Tage beten, gelt Großvater, und wir wollen es nie mehr vergessen, damit der liebe Gott uns auch nicht vergisst."
"Und wenn's jemand doch vergisst?", murmelte der Großvater.
"Oh, dem geht's nicht gut, denn der liebe Gott vergisst ihn dann auch und lässt ihn ganz laufen, und wenn es ihm einmal schlecht geht und er jammert, so hat kein Mensch Mitleid mit ihm, sondern alle sagen nur: Er ist ja zuerst vom lieben Gott weggelaufen, nun lässt ihn der liebe Gott auch gehen, der ihm helfen könnte."
"Das ist wahr, Heidi, woher weißt du das?"
"Von der Großmama, sie hat mir alles erklärt."
Der Großvater ging eine Weile schweigend weiter. Dann sagte er, seine Gedanken verfolgend, vor sich hin: "Und wenn's einmal so ist, dann ist es so; zurück kann keiner, und wen der Herrgott vergessen hat, den hat er vergessen."
"O nein, Großvater, zurück kann man, das weiß ich auch von der Großmama, und dann geht es so wie in der schönen Geschichte in meinem Buch, aber die weißt du nicht; jetzt sind wir aber gleich daheim, und dann wirst du schon erfahren, wie schön die Geschichte ist."
Heidi strebte in ihrem Eifer rascher und rascher die letzte Steigung hinauf, und kaum waren sie oben angekommen, als sie die Hand des Großvaters losließ und in die Hütte hineinrannte. Der Großvater nahm den Korb von seinem Rücken, in den er die Hälfte der Sachen aus dem Koffer hineingepackt hatte, denn den ganzen Koffer heraufzubringen wäre ihm zu schwer gewesen. Dann setzte er sich nachdenklich auf die Bank nieder. Heidi kam wieder herbei gerannt, ihr großes Buch unter dem Arm: "Oh, das ist recht, Großvater, dass du schon dasitzt", und mit einem Satz war Heidi an seiner Seite und hatte schon ihre Geschichte aufgeschlagen, denn die hatte Heidi schon so oft und immer wieder gelesen, dass das Buch von selbst an dieser Stelle aufging. Jetzt las Heidi mit großer Teilnahme von dem Sohne, der es gut hatte daheim, wo draußen auf des Vaters Feldern die schönen Kühe und Schäflein weideten und er in einem schönen Mantel, auf seinen Hirtenstab gestützt, bei ihnen auf der Weide stehen und dem Sonnenuntergang zusehen konnte, wie es alles auf dem Bilde zu sehen war. "Aber auf einmal wollte er sein Hab und Gut für sich haben und sein eigener Meister sein und forderte es dem Vater ab und lief fort damit und verprasste alles. Und als er gar nichts mehr hatte, musste er hingehen und Knecht sein bei einem Bauer, der hatte aber nicht so schöne Tiere, wie die, die auf seines Vaters Feldern waren, sondern nur Schweine; diese musste er hüten, und er hatte nur noch Fetzen auf sich und bekam nur von den Abfällen, welche die Schweineaßen, ein klein wenig. Da dachte er daran, wie er es daheim beim Vater gehabt und wie gut der Vater mit ihm gewesen war und wie undankbar er gegen den Vater gehandelt hatte, und er musste weinen vor Reue und Heimweh. Und er dachte: Ich will zu meinem Vater gehen und ihn um Verzeihung bitten und ihm sagen, ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen, aber lass mich nur dein Tagelöhner bei dir sein. Und wie er von ferne zum Haus seines Vaters kam, da sah ihn der Vater und kam herausgelaufen - was meinst du jetzt, Großvater?", unterbrach sich Heidi in ihrem Vorlesen; "jetzt meinst du, der Vater sei noch böse und sage zu ihm: Ich habe es dir ja gesagt!? Jetzt hör nur, was kommt: Und sein Vater sah ihn und es jammerte ihn und lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn, und der Sohn sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen. Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringt das beste Kleid her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an die Füße, und bringt das gemästete Kalb her und schlachtet es und lasst uns essen und fröhlich sein, denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, und er war verloren und ist wieder gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein."
"Ist denn das nicht eine schöne Geschichte, Großvater?", fragte Heidi, als dieser immer noch schweigend dasaß und sie doch erwartet hatte, er werde sich freuen und wundern.
"Doch, Heidi, die Geschichte ist schön", sagte der Großvater; aber sein Gesicht war so ernsthaft, dass Heidi ganz stille wurde und die Bilder ansah. Leise schob sie noch einmal ihr Buch vor den Großvater hin und sagte: "Sieh, wie es ihm gut geht", und zeigte mit ihrem Finger auf das Bild des Heimgekehrten, wie er im frischen Kleid neben dem Vater steht und wieder zu ihm gehört als sein Sohn.
Ein paar Stunden später, als Heidi längst im tiefen Schlafe lag, stieg der Großvater die kleine Leiter hinauf; er stellte sein Lämpchen neben Heidis Lager hin, so dass das Licht auf das schlafende Kind fiel. Es lag da mit gefalteten Händen, denn zu beten hatte Heidi nicht vergessen. Auf seinem rosigen Gesichtchen lag ein Ausdruck des Friedens und seligen Vertrauens, der zu dem Großvater reden musste, denn lange, lange stand er da und rührte sich nicht und wandte kein Auge von dem schlafenden Kinde ab. Jetzt faltete auch er die Hände, und halblaut sagte er mit gesenktem Haupte: "Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen!" Und ein paar große Tränen rollten dem Alten die Wangen herab. -
Wenige Stunden nachher in der ersten Frühe des Tages stand der Alm-Öhi vor seiner Hütte und schaute mit hellen Augen um sich. Der Sonntagmorgen flimmerte und leuchtete über Berg und Tal. Einzelne Frühglocken tönten aus den Tälern herauf, und oben in den Tannen sangen die Vögel ihre Morgenlieder.
Jetzt trat der Großvater in die Hütte zurück. "Komm, Heidi!", rief er auf den Boden hinauf. "Die Sonne ist da! Zieh ein gutes Röckchen an, wir wollen in die Kirche miteinander!"
Heidi brauchte nicht lange; das war ein ganz neuer Ruf vom Großvater, dem musste sie schnell folgen. In kurzer Zeit kam sie herunter gesprungen in ihrem schmucken Frankfurter Röckchen. Aber voller Erstaunen blieb Heidi vor ihrem Großvater stehen und schaute ihn an. "O Großvater, so hab ich dich nie gesehen", brach es endlich aus ihr heraus, "und den Rock mit den silbernen Knöpfen hast du noch gar nicht getragen, oh, du bist so schön in deinem schönen Sonntagsrock."
Der Alte blickte vergnüglich lächelnd auf das Kind und sagte: "Und du in dem deinen; jetzt komm!" Er nahm Heidis Hand in die seine, und so wanderten sie miteinander den Berg hinunter. Von allen Seiten tönten jetzt die hellen Glocken ihnen entgegen, immer voller und reicher, je weiter sie kamen, und Heidi lauschte mit Entzücken und sagte: "Hörst du's, Großvater? Es ist wie ein großes, großes Fest."
Unten im Dörfli waren schon alle Leute in der Kirche und fingen eben zu singen an, als der Großvater mit Heidi eintrat und sich ganz hinten auf der letzten Bank niedersetzte. Aber mitten im Singen stieß der zunächst Sitzende seinen Nachbar mit dem Ellenbogen an und sagte: "Hast du das gesehen? Der Alm-Öhi ist in der Kirche!"
Und der Angestoßene stieß den Zweiten an und so fort, und in kürzester Zeit flüsterte es an allen Ecken: "Der Alm-Öhi! Der Alm-Öhi!", und die Frauen mussten fast alle einen Augenblick den Kopf umdrehen, und die meisten fielen ein wenig aus der Melodie, so dass der Vorsänger die größte Mühe hatte, den Gesang schön aufrechtzuerhalten. Aber als dann der Herr Pfarrer anfing zu predigen, ging die Zerstreutheit ganz schnell vorüber, denn es war ein so warmes Loben und Danken in seinen Worten, dass alle Zuhörer davon ergriffen wurden, und es war, als sei ihnen allen eine große Freude widerfahren. Als der Gottesdienst zu Ende war, trat der Alm-Öhi mit dem Kinde an der Hand heraus und schritt dem Pfarrhaus zu, und alle, die mit ihm heraustraten und die schon draußen standen, schauten ihm nach; und die meisten gingen hinter ihm her, um zu sehen, ob er wirklich ins Pfarrhaus eintrete, was er tat. Dann sammelten sie sich in Gruppen zusammen und besprachen in großer Aufregung das Unerhörte, dass der Alm-Öhi in der Kirche erschienen war. Alle schauten mit Spannung nach der Pfarrhaustür, wie der Öhi wohl wieder herauskommen werde, ob in Zorn und Hader oder im Frieden mit dem Herrn Pfarrer, denn man wusste ja gar nicht, was den Alten heruntergebracht hatte und wie es eigentlich gemeint sei. Aber es war doch schon bei vielen eine neue Stimmung eingetreten, und einer sagte zum andern: "Es wird wohl mit dem Alm-Öhi nicht so böse sein, wie man tut; man muss ja nur sehen, wie sorglich er das Kleine an der Hand hält." Und der andere sagte: "Das hab ich ja immer gesagt, und zum Pfarrer hinein ginge er auch nicht, wenn er ein so schlechter Mensch wäre, sonst müsste er sich ja fürchten; man übertreibt auch viel." Und der Bäcker sagte: "Hab ich das nicht zuallererst gesagt? Seit wann läuft denn ein kleines Kind, das zu essen und zu trinken hat, was es will, und sonst alles Gute, aus alledem weg und heim zu einem Großvater, wenn der bös und wild ist und es sich zu fürchten hat vor ihm?" Und es kam eine ganz liebevolle Stimmung gegen den Alm-Öhi auf und nahm überhand, denn jetzt gesellten sich auch die Frauen das zu, und diese hatten so manches von der Geißenpeterin und der Großmutter gehört, das den Alm-Öhi ganz anders darstellte, als die allgemeine Meinung war, und das ihnen jetzt auf einmal glaubwürdig erschien, so dass es mehr und mehr so wurde, als warteten sie alle da, um einen alten Freund zu begrüßen, der ihnen lange gefehlt hatte.
Der Alm-Öhi war unterdessen an die Tür der Studierstube getreten und hatte angeklopft. Der Herr Pfarrer machte auf und trat dem Eintretenden entgegen, nicht überrascht, wie er wohl hätte sein können, sondern so, als habe er ihn erwartet; die ungewohnte Erscheinung in der Kirche war ihm nicht entgangen. Er ergriff die Hand des Alten und schüttelte sie wiederholt mit der größten Herzlichkeit, und der Alm-Öhi stand schweigend da und konnte erst kein Wort herausbringen, denn auf solchen herzlichen Empfang war er nicht vorbereitet. Jetzt fasste er sich und sagte: "Ich komme, um den Herrn Pfarrer zu bitten, dass er mir die Worte vergeben möchte, die ich auf der Alm zu ihm gesagt habe, und dass er mir nicht nachtragen wolle, wenn ich widerspenstig war gegen seinen wohlmeinenden Rat. Der Herr Pfarrer hat ja in allem Recht gehabt und ich war im Unrecht; aber ich will jetzt seinem Rate folgen und im Winter wieder eine Wohnung im Dörfli beziehen, denn die harte Jahreszeit ist nichts für das Kind dort oben, es ist zu zart; und wenn dann auch die Leute hier unten mich von der Seite ansehen, so wie einen, dem nicht zu trauen ist, so habe ich es nicht besser verdient, und der Herr Pfarrer wird es ja nicht tun."
Die freundlichen Augen des Pfarrers glänzten vor Freude. Er nahm noch einmal die Hand des Alten und drückte sie in der seinen und sagte mit Rührung: "Nachbar, du bist in der rechten Kirche gewesen, noch eh du in die meinige herunter gekommen bist; darüber freu ich mich, und dass du wieder zu uns kommen und mit uns leben willst, soll dir nicht Leid tun, bei mir sollst du als ein lieber Freund und Nachbar alle Zeit willkommen sein, und ich hoffe manches Winterabendstündchen fröhlich mit dir zu verbringen, denn deine Gesellschaft ist mir lieb und wert, und für das Kleine wollen wir auch gute Freunde finden." Und der Herr Pfarrer legte sehr freundlich seine Hand auf Heidis Krauskopf und nahm sie bei der Hand und führte sie hinaus, indem er den Großvater hinausbegleitete, und erst draußen vor der Haustür nahm er Abschied, und nun konnten alle die herumstehenden Leute sehen, wie der Herr Pfarrer dem Alm-Öhi die Hand immer noch einmal schüttelte, gerade als wäre das sein bester Freund, von dem er sich fast nicht trennen könnte. Kaum hatte sich dann die Tür hinter dem Herrn Pfarrer geschlossen, so drängte die ganze Versammlung dem Alm-Öhi entgegen, und jeder wollte der Erste sein, und so viele Hände wurden miteinander dem Herankommenden entgegengestreckt, dass er gar nicht wusste, welche zuerst ergreifen, und einer rief ihm zu: "Das freut mich! Das freut mich, Öhi, dass du auch wieder einmal zu uns kommt!", und ein anderer: "Ich hätte auch schon lang gern wieder einmal ein Wort mit dir geredet, Öhi!" Und so tönte und drängte es von allen Seiten, und als nun der Öhi auf alle die freundlichen Begrüßungen erwiderte, er beabsichtige, seine alte Wohnung im Dörfli wieder zu beziehen und den Winter mit den alten Bekannten zu verleben, da gab es erst einen rechten Lärm, und es war gerade so, als wenn der Alm-Öhi die beliebteste Persönlichkeit im ganzen Dörfli wäre, die jeder mit Nachteil entbehrt hatte. Noch weit an die Alm hinauf wurden Großvater und Kind von den meisten begleitet, und beim Abschied wollte jeder die Versicherung haben, dass der Alm-Öhi bald einmal bei ihm vorbeischaue, wenn er wieder herunterkomme; und wie nun die Leute den Berg hinab zurückkehrten, blieb der Alte stehen und schaute ihnen lange nach, und auf seinem Gesichte lag ein so warmes Licht, als schiene bei ihm die Sonne von innen heraus. Heidi schaute unverwandt zu ihm auf und sagte ganz erfreut: "Großvater, heut wirst du immer schöner, so warst du noch nie."
"Meinst du?", lächelte der Großvater. "Ja, und siehst du, Heidi, mir geht's heute auch über alle Maßen gut, und mit Gott und Menschen im Frieden stehen, das tut einem so gut! Der liebe Gott hat's gut mit mir gemeint, dass er dich auf die Alm schickte."
Bei der Geißenpeter-Hütte angekommen, machte der Großvater gleich die Tür auf und trat ein. "Grüß Gott, Großmutter", rief er hinein; "ich denke, wir müssen einmal wieder ans Flicken gehen, bevor der Herbstwind kommt."
"Du mein Gott, das ist der Öhi!", rief die Großmutter voll freudiger Überraschung aus. "Dass ich das noch erlebe! Dass ich dir noch einmal danken kann für alles was du für uns getan hast, Öhi! Vergelt's Gott! Vergelt's Gott!"
Und mit zitternder Freude streckte die alte Großmutter ihre Hand aus, und als der Angeredete sie herzlich schüttelte, fuhr sie fort, indem sie die seinige fest hielt: "Und eine Bitte hab ich auch noch auf dem Herzen, Öhi: Wenn ich dir je etwas zu leid getan habe, so strafe mich nicht damit, dass du noch einmal Heidi fortlässt, bevor ich unten bei der Kirche liege. Oh du weißt nicht, was mir das Kind bedeutet!", und sie hielt es fest an sich, denn Heidi hatte sich schon an sie geschmiegt.
"Keine Sorge, Großmutter", beruhigte der Öhi; "damit will ich weder dich noch mich strafen. Jetzt bleiben wir alle beieinander und, will's Gott, noch lange so."
Jetzt zog die Brigitte den Öhi ein wenig geheimnisvoll in eine Ecke hinein und zeigte ihm das schöne Federhütchen und erzählte ihm, wie es sich damit verhalte, und dass sie ja natürlich so etwas einem Kinde nicht abnehme.
Aber der Großvater sah mit Gefallen auf Heidi hin und sagte: "Der Hut gehört ihr, und wenn sie ihn nicht mehr auf den Kopf tun will, so hat sie Recht, und hat sie ihn dir gegeben, so nimm ihn nur."
Die Brigitte war sehr erfreut über das unerwartete Urteil. "Er ist gewiss mehr als zehn Franken wert, sieh nur!", und in ihrer Freude streckte sie das Hütchen hoch auf. "Was aber Heidi auch für einen Segen von Frankfurt mit heimgebracht hat! Ich habe schon manchmal denken müssen, ob ich nicht den Peterli auch ein wenig nach Frankfurt schicken solle; was meinst du, Öhi?"
Dem Öhi schoss es ganz lustig aus den Augen. Er meinte, es könnte dem Peterli nichts schaden; aber er würde doch eine gute Gelegenheit dazu abwarten.
Gerade da kam Peter zur Tür herein; er hatte es so eilig, dass er zuerst mit dem Kopf so fest gegen die Tür gestoßen war, dass drinnen alles klirrte. Atemlos und keuchend stand er nun mitten in der Stube still und streckte einen Brief aus. Das war aber auch ein Ereignis, das noch nie vorgekommen war, ein Brief mit einer Aufschrift an Heidi, den man ihm auf der Post im Dörfli übergeben hatte. Jetzt setzten sich alle voller Erwartung um den Tisch herum, und Heidi machte ihren Brief auf und las ihn laut und ohne Fehler vor. Der Brief war von Klara Sesemann geschrieben. Sie erzählte Heidi, dass es seit ihrer Abreise so langweilig geworden sei in ihrem Hause, sie es nicht lang hintereinander so aushalten könne und so lange den Vater gebeten habe, bis er die Reise nach Bad Ragaz schon auf den kommenden Herbst festgelegt habe, und die Großmama wolle auch mitkommen, denn sie wolle auch Heidi und den Großvater auf der Alm besuchen. Und weiter ließ die Großmama noch Heidi sagen, sie habe Recht getan, dass sie der alten Großmutter die Brötchen habe mitbringen wollen, und damit sie diese nicht trocken essen müsse, komme gleich der Kaffee noch dazu, er sei schon auf der Reise, und wenn sie selbst nach der Alm komme, so müsse Heidi sie auch zur Großmutter führen.
Da gab es nun eine solche Freude und Erstaunen über diese Nachrichten und so viel zu reden und zu fragen, da alle ganz aufgeregt waren, dass selbst der Großvater nicht bemerkte, wie spät es schon war, und so vergnügt und fröhlich waren sie alle in der Aussicht auf die kommenden Tage und fast noch mehr in der Freude über das Zusammensein an dem heutigen, dass die Großmutter zuletzt sagte: "Das Schönste ist doch, wenn so ein alter Freund kommt und uns wieder die Hand gibt, so wie vor langer Zeit; das gibt so ein tröstliches Gefühl ins Herz, dass wir einmal alles wieder finden, was uns lieb ist. Du kommst doch bald wieder, Öhi, und das Kind morgen schon?"
Das wurde der Großmutter in die Hand hinein versprochen; nun aber war es Zeit zum Aufbruch, und der Großvater wanderte mit Heidi die Alm hinauf, und wie am Morgen die hellen Glocken von nah und fern sie herunter gerufen hatten, so begleitete nun aus dem Tale herauf das friedliche Geläut der Abendglocken sie bis hinauf zur sonnigen Almhütte, die ganz sonntäglich im Abendschimmer ihnen entgegenglänzte.
Wenn aber die Großmama im Herbst kommt, dann gibt es gewiss noch manche neue Freude und Überraschung für Heidi wie für die Großmutter, und sicher kommt auch gleich ein richtiges Bett auf den Heuboden hinauf, denn wo die Großmama hinkommt, da kommen alle Dinge bald in die erwünschte Ordnung und Richtigkeit, nach außen wie nach innen.