Alice im Wunderland

  • Autor: Carroll, Lewis

Inhalt

1. Das weiße Kaninchen
2. Das Wunderland im Kaninchenbau
3. Unter der Erde: Alices Tränenmeer
4. Das Abenteuer vom Wettrennen auf der Tierversammlung
5. Alice gefangen im Kaninchenhaus
6. Alice folgt dem Rat einer Raupe
7. Die Geschichte vom Schweinebaby
8. Alices Abenteuer auf der verrückten Nicht-Geburtstagsparty
9. Alice beim königlichen Krocketspiel
10. Die Geschichte von der Falschen Suppenschildkröte
11. Vogel Greif und die Falsche Suppenschildkröte erzählen vom Hummertanz
12. Alices Abenteuer im königlichen Gerichtssaal oder ist Herzbube der Kuchendieb?
13. Alice deckt die Karten auf
14. Alice wieder auf der Wiese bei ihrer Schwester Celia

 

 

1. Das weiße Kaninchen


Ich könnte ja Gänseblümchen pflücken und daraus eine Kette flechten, dachte Alice gerade schläfrig bei sich, als sie plötzlich ein Weißes Kaninchen mit rosarot funkelnden Augen über die Wiese nahe am Fluss kommen sah.

Ihre Schwester Celia las weiter aus dem Buch vor, aber Alice hatte sich schon zuvor gelangweilt und nun konnte sie erst recht nicht mehr zuhören. Sie hatte nur noch Augen für das weiße Felltier. Das Kaninchen war trotz der Hitze an diesem Maitag mit einem karierten Jackett bekleidet und hoppelte nicht etwa - wie alle anderen Frühlingshasen - über die Wiese, sondern lief auf zwei Beinen eilig ganz nah an Alices Picknickdecke unter dem Baum vorbei, sah dabei auf seine Uhr und murmelte besorgt: "Oje, ojemine, ich komme zu spät!" Dann war es auch schon vorbeigestürzt und nahe der Hecke am hinteren Feldrand angekommen.

Alice sprang auf und folgte dem Weißen Kaninchen. Sie hatte noch nie zuvor ein sprechendes Kaninchen mit Taschenuhr gesehen, müßt ihr wissen. Aber da war das weiße Langohr bereits flugs in einem Erdloch unter der Hecke verschwunden.

 

 

 

2. Das Wunderland im Kaninchenbau



Ohne lange zu überlegen war Alice dem Kaninchen hinterher in den Bau geschlüpft und erst als sie drinnen war, staunte sie über sich selbst. Sie war ja in einen dunklen Tunnel unter der Erde gekrochen! Hier war es nicht etwa wie in einer gewöhnlichen Kaninchenhöhle mit waagerecht ausgebuddeltem Kaninchengang, sondern es ging nur kurz eben geradeaus und dann geradewegs in einem Schacht nach unten in die Tiefe. Alice purzelte hinein und begann zu fallen. Sie war plötzlich ganz leicht und fiel deshalb nur sehr langsam, wie in Zeitlupe. Mit staunenden Augen schaute sie um sich. "Es sieht hier sehr gemütlich aus", dachte sie. Links und rechts waren Küchen- und Bücherregale angebracht. Ja, einige Bücher und Landkarten kannte sie sogar aus der Schule. "Mmh, und hier: eingemachte Apfelsinen", sagte sie mit lauter Stimme und schmatzte vor Naschlust. Aber da war sie auch schon wieder weiter und weiter nach unten gesegelt. Ihr Kleid war aufgebauscht wie ein Fallschirm, so dass Alice schaukelte und schwebte wie ein Blatt im Wind.

Sie hatte weit aufgerissene große Augen, schaute und schaute, flog und flog, tiefer und immer tiefer. Dabei dachte sie: "Die Höhle ist offenbar sehr tief. Denn ich fliege zwar langsam, aber schon ganz schön lange." "Vielleicht komme ich ja bis zum Mittelpunkt der Erde," überlegte sie dann laut und hörte dabei ihre Stimme in der Leere hallen. Da sie nichts weiter zu tun hatte, begann sie leise zu rechnen: "Das wären dann… wieviel Meter? Ungefähr 6500 Kilometer?" Bevor sie aber zu Ende gerechnet hatte, kam ihr eine neue Idee: "Vielleicht falle ich ja ganz durch die Erde hindurch und komme auf der anderen Seite auf dem Kopf wieder heraus!" Wieder hörte sie ihre eigene Stimme in der Stille. "Aber wo wäre ich dann?" Jetzt war sie eine ganze Weile still und dachte: "Ich sollte dann nach dem Namen des Landes fragen. Wahrscheinlich bin ich dann in Neuseeland oder Australien. Oder wo?"

Sie fiel weiter, still und ohne etwas zu sagen, denn sie stellte sich vor, wie sie es am besten anstellen sollte, wenn sie herauskäme. Dann sagte sie mit heller Stimme und machte dabei einen Knicks: "Guten Tag, können Sie mir sagen, wo ich bin?" Sie wollte ausprobieren, was sie tun würde, käme sie am anderen Ende der Weltkugel wieder zum Vorschein.

Doch jetzt fiel sie plötzlich ganz schnell, stürzte hinab in die Tiefe, so dass sie mit dem Kopf zuerst fiel und einen Schreck bekam. Aber bald drehte sie sich im Flug wieder um ihre eigene Mitte und schwebte also wieder Kopf nach oben weiter langsam in die Tiefe. Ihr fiel jetzt auf, dass sie im Flug einen Knicks gemacht hatte und sie fand, das war ein ganz beachtliches Kunststück: "Mmh!" Da ihr hier aber niemand antwortete und sie auch niemanden sah, wurde sie schließlich vom langen Fallen schläfrig. Normalerweise schlief ja ihre Katze bei ihr, deshalb rief sie nach ihrer Katze: "Dinah! Miez! Miez! Miez! Ach, ich wünschte, du wärst hier!" Dann dachte sie daran, dass Dinah etwas zu Fressen brauchte und murmelte: "Du könntest hier in der Luft statt Mäuse, Fledermäuse oder Spatzen fangen. Mäuse oder Spatzen?

Essen Katzen Spatzen mit den Tatzen?" Sie spielte im Traum eine Weile mit den Wörtern, dachte sich Reime aus, zum Beispiel: "Machen Katzen Fratzen?" und überlegte gerade noch einmal, ob sie wohl jemals auf dem Boden ankommen würde, da landete sie mit einem "Plumps" in einem Haufen raschelnder weicher Blätter.

Aber nein, Alice hatte sich nicht weh getan. Sie schaute gleich neugierig um sich. Über ihr, von wo sie gekommen war, war es stockdunkel, vor ihr aber war ein heller schmaler Gang mit schönen Leuchtern an den Wänden. "Ah!" Dort sah sie gerade noch den Stummelschwanz des Weißen Kaninchens, das um die Ecke bog, wobei sie es wieder sagen hörte: "Oje ojemine, ojemine! Bei meinen Löffeln und Schnurrbarthaaren. Ich komme zu spät!" Sie sprang also geschwind auf und rief: "Warte auf mich!" Aber das Kaninchen lief hastig weiter ohne auf Alice zu achten. Alice eilte ihm hinterher, war ihm jetzt auch schon direkt auf den Fersen, ja meinte sogar, seinen Stummelschwanz zu erhaschen. Aber so schnell sie auch versuchte, es einzuholen, als sie um die Ecke bog und in der angrenzenden grossen Halle stand, war das Kaninchen bereits durch eine der vielen Türen ringsum entschlüpft!

Durch welche Tür war es bloß gegangen? Alice lief an den Wänden entlang, versuchte jedoch vergeblich eine der Türen zu öffnen. Alle waren zu! Das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen!

 

 

 

3. Unter der Erde: Alices Tränenmeer

Alice sah sich ein zweites Mal in der Halle um, dabei entdeckte sie auf einem kleinen Glastisch einen winzigen goldenen Schlüssel. Nur er wollte in keines der vielen Türschlösser passen. Entweder waren die Schlösser zu groß oder ihr Schlüssel zu klein. "Ich suche ein kleines Weißes Kaninchen", sagte sie leise und drehte dabei einen Türknauf. Aber auch diese Tür öffnete sich nicht und niemand war da, der ihr hätte helfen können.

Nun betrachtete sie den Raum noch genauer, schob dann vorsichtig einen kurzen roten Vorhang an der Wand beiseite, den sie zuvor nicht beachtet hatte. Und siehe da! Dahinter verbarg sich eine kleine, nur etwa 40 Zentimeter große Tür, mit einem winzigen Schlüsselloch!

Ja, das war sicher das passende Schloss für den kleinen Schlüssel! Die Tür sprang auf und Alice wollte natürlich hineinschauen, musste dazu aber zuerst in die Knie und dann auf alle Viere gehen, um endlich hineinschauen zu können.

"Oh!" Dahinter verbarg sich ein wunderschöner Blumengarten! Er war wie ein Labyrinth angelegt mit ineinander verschlungenen Wegen und hohen Hecken. "Wenn ich nur wüsste, wie ich da hinein kommen kann", fragte sich Alice ungeduldig. "Ich möchte mich wie ein Fächer zusammenfalten und dann wie ein Teleskop ineinanderschieben können!" Nur, wie sollte sie das anstellen? Es schien ihr ganz unnütz, länger bei der kleinen Tür zu warten, denn in der unterirdischen Höhle hier waren bereits so viele ungewöhnliche Dinge passiert, dass sie hoffte, in der Halle noch einmal etwas Überraschendes zu entdecken. Also ging sie erneut umher.

"Siehst du, da auf dem Tisch steht ein Fläschchen", sagte sie zu sich selbst. Tatsächlich fand sie also auch diesmal wieder etwas. "Die kleine Flasche war vorher noch nicht da", stellte Alice mit detektivischem Instinkt fest. Um den Flaschenhals herum war ein Zettel gebunden, auf dem stand: "Trink mich!" "Nun ja, das werde ich tun, aber ich sehe zuerst nach, ob ein Totenkopf darauf ist", sagte Alice, denn sie wusste, das bedeutete, dass die Flasche Gift enthielt. Als sie sich vergewissert hatte, dass das nicht der Fall war, kostete sie. "Mmh!" Der Saft schmeckte nach Kirschkuchen mit Schlagsahne, Ananas, Karamellbonbon und warmem, mit Butter bestrichenem Toast. "Köstlich!" Nach und nach trank Alice die Flasche ganz leer.

Aber, "was für ein eigenartig kribbeliges Gefühl!" dachte sie, als sie merkte, dass plötzlich in ihrem Körper etwas Seltsames vor sich ging. "Ich schrumpfe!", rief sie dann gespannt. Ihr Gesicht begann zu strahlen bei dem Gedanken, dass sie nun die geeignete Größe haben würde, um durch die kleine Türöffnung in den rätselhaften Garten zu gelangen. Jetzt war sie tatsächlich gerade noch 25 Zentimeter groß und wollte also gleich hineingehen. Aber, arme Alice! Als sie an die Tür kam, bemerkte sie, dass sie beim Trinken aus der Flasche den goldenen Schlüssel auf den Tisch gelegt hatte und die Tür mittlerweile wieder zugefallen war.

"Oh, wie ärgerlich, ich habe den goldenen Schlüssel auf dem Tisch vergessen!", sagte sie. Sie ging zurück, den Schlüssel zu holen, aber, sie konnte ihn in ihrem jetzigen Zustand unmöglich erreichen. Zwar sah sie ihn von unten durch den gläsernen Tisch hindurch oben liegen, als sie aber an einem der Tischbeine hinaufklettern wollte, rutschte sie sofort wieder hinunter. Sie versuchte es immer und immer wieder, und als sie sich schon ganz müde geklettert hatte, setzte sich die kleine Alice hin und weinte. "Still, Alice, hör sofort auf zu weinen!", sagte sie augenblicklich mit strenger Stimme zu sich selbst. Ja, sie gab sich oft selbst Anweisungen, müsst ihr wissen. Manchmal schimpfte sie sogar so heftig mit sich selbst, dass sie weinen musste.

Alice war ein Mädchen, das sich gerne vorstellte, zwei Personen zu sein und sich auch gerne eine Welt vorstellte, in der Dinge möglich waren, die sonst nicht sein durften oder als unmöglich galten. "Aber jetzt bringt es nichts, so zu tun als ob ich zwei verschiedene Personen wäre. Es ist ja kaum genug von mir selbst übrig. Und das Heulen bringt auch nichts, denn ich bin jetzt wirklich zu klein, um dort hinaufzukommen!" dachte sie. Was also tun? Da fiel ihr Auge auf ein kleine Schatulle, die unter dem Tisch lag. Sie öffnete umständlich den fest verschlossenen Riegel. In der Schatulle lag ein kleiner Keks, auf dem mit Korinthen geschrieben stand: "Iß mich!" "Nun", dachte Alice bei sich: "werde ich größer, so kann ich den Schlüssel oben greifen, werde ich aber kleiner, dann schlüpfe ich eben durch den klitzekleinen Türschlitz am Boden in den schönen Garten." Also aß sie einen Kekskrümel und sagte neugierig zu sich selbst: "Wohin jetzt? Aufwärts oder abwärts?" Dabei hielt sie die Hand prüfend auf ihren Kopf. Nach und nach verzehrte sie den Keks ganz und gar, denn es wollte sich keine Reaktion einstellen.

Doch mit einem Mal -schwupp-, -schwupp-, -schwupp- wuchs und wuchs sie in die Höhe und ihr Körper schoss nach allen Richtungen auseinander. Sie bekam einen langen Hals, einen großen Bauch und Kopf, ja, alles wurde so riesengroß, dass ihre Füße bald endlos weit weg schienen. So füllte sie den ganzen Raum der Halle aus und war jetzt zehnmal größer als vorher, ganze 2,70 Meter groß!

Zuerst fand sie es lustig, nicht einmal mehr ihre eigenen Füße zu sehen und dachte sich eine Geschichte aus, wie sie wohl mit ihren Füßen wieder einmal in Kontakt kommen könnte. Sie könnte ihnen ja zu Weihnachten ein Päckchen schicken und dabei schöne Grüße bestellen. Als sie aber mit einem Mal mit ihrem Kopf heftig an die Decke prallte, erschrak Alice. Sie erschrak so sehr, dass sie wieder zu weinen begann und diesmal vor Verzweiflung nicht mehr auf sich selbst hörte, als sie sich sagte, dass sie aufhören solle. In den Garten zu gehen war doch jetzt komplett unmöglich geworden! Deshalb quollen aus ihren großen Augen dicke Tränen. Immer mehr und mehr Tropfen strömten heraus, kullerten über ihre Wangen hinab und platschten auf den Boden. Das Weinen wollte gar nicht mehr aufhören. Alice weinte so lange, bis die literweise verflossenen Tränen um sie herum eine etwa 10 Zentimeter tiefe Pfütze bildeten.

Was sollte sie bloß tun? Sie hatte zwar mit dem goldenen Schlüssel die kleine Tür nun wieder öffnen können, war aber mittlerweile viel zu groß, um durch die kleine Öffnung zu passen. "Vielleicht war in dem Glasfläschchen von vorhin ja noch etwas Flüssigkeit?", dachte sie dann. Alice wollte also gerade nachschauen und griff mit ihren großen Händen danach, da hörte sie von weitem Hasenpfoten trippeln. Sie lauschte unbeweglich und rollte dabei ihre Augen nach allen Richtungen, um zu sehen, woher die Schritte kamen. Und siehe da, zu ihren Füßen lief schwitzend und hastend das Weiße Kaninchen herbei. Wieder war es in Eile. Doch diesmal war es fein bekleidet, trug weiße Glaceehandschuhe und hielt einen Fächer in der Hand. Es murmelte atemlos vor sich hin: "Oje, ojemine, ojemine! Die Herzogin! Die Herzogin; sie wird wütend, wenn ich zu spät komme!"

Alice wollte das Kaninchen um Hilfe bitten, doch als sie ihre Stimme erhob, da erschrak das Kaninchen so sehr, dass es Handschuhe und Fächer fallen ließ und schnell davon jagte. Alice war wieder allein. Stickig heiß war es hier, deshalb kam sie jetzt auf den Gedanken, doch den Kaninchenfächer zu nehmen, um sich ein wenig frische Luft zuzufächern während sie über ihre Lage nachdenken wollte. Alice nahm den kleinen Fächer und dachte bei sich: "Wurde ich denn heute Nacht ausgewechselt? Ich kenne mich gar nicht mehr aus. Bin ich noch ich selbst oder bin ich eine andere geworden? Und wenn ich nicht mehr dieselbe bin, wer in aller Welt bin ich denn dann?" Da fiel ihr ein: "Vielleicht bin ich ja eine meiner Freundinnen?"

Alice stellte sich ihre Schulkameradinnen vor: Nein, Ada war sie ganz bestimmt nicht. Denn Ada hatte krauses Lockenhaar und Alices Haare waren glatt. Oder war sie etwa Mabel? Nein, die konnte sie schon gar nicht sein, das kam nicht in Frage, denn Mabel war nicht so gut in der Schule wie sie. Alice wusste nämlich über sehr viel mehr Dinge weit besser Bescheid als Mabel. Wer aber war sie, wenn nicht eine der beiden? Jetzt kam Alice auf die Idee, sich selbst zu testen, ob sie vielleicht doch sie selbst war und ihr Wissen bei sich selbst abfragen konnte. "Beginnen wir mit Mathematik!", forderte sie sich auf. "Vier mal fünf ist zwölf und vier mal sechs ist dreizehn." Oh, weh, da stimmte etwas nicht! "Dann wollen wir es mal mit Geografie versuchen", wies sie sich an und fuhr fort: "London ist die Hauptstadt von Paris und Paris ist die Hauptstadt von Rom und Rom ist… Oh nein, das ist ja alles ganz falsch!", beurteilte sie sich selbst. "Dann werde ich es jetzt mal mit einem Gedicht versuchen. Kann ich mich wenigstens noch an das Gedicht >Gegen Müßiggang und Ungedeih< erinnern?" Doch ihr wollten auch dafür nicht mehr die passenden Reime und Verse einfallen.

Denn anstatt: "Wie emsig macht die kleine Bien", begann das Gedicht jetzt so:

Wie eifrig putzt das Krokodil
Den glänzend' Schwanz sich glatt.
Es spült mit Wasser aus dem Nil
Die gold'nen Schuppen sich ab.

Wie freundlich scheint das Tier zu sein,
Wie schlau spitzts Klau' und Kralln!'
"Willkommen kleine Fischlein mein",
so lockt's, damit sie in den Kiefer falln!

Alice merkte, dass das ganze Gedicht vollkommen verkehrt herausgekommen war! Anstatt: "Wie emsig macht die kleine Bien" begann es mit "Wie eifrig putzt das Krokodil" und anstatt von honigsammelnden Bienen, handelte es jetzt von hungrigen Krokodilen. Nun war sie sich also ganz sicher: sie konnte unmöglich Alice sein! Sie war mit ihren Resultaten ganz und gar nicht zufrieden und gab schließlich die Schulfragen auf.

"Oh, ich wünschte so sehr, jemand würde hier bei mir sein!", seufzte Alice traurig und fuhr fort, sich mit dem Kaninchenfächer Luft zuzuwedeln. Von Alice zunächst unbemerkt zeigte der Fächer jedoch - wie all die anderen Dinge hier in der Kaninchenhöhle - bereits seine zauberhafte Wirkung. Alice sah, dass sie jetzt die weißen Lederhandschuhe des Kaninchens trug und fragte sich, wie das vonstatten gegangen sein konnte. Sie musste also mit jedem Fächerschlag kleiner und immer kleiner geworden sein bis ihr die Handschuhe des Kaninchens passten. "Oje, ojemine, so klein war ich ja noch nie!", rief sie aus, als sie sich über ihren Wandel klar wurde. "Hilfe!", kam dann plötzlich aus ihrem Mund; sie war auch noch ausgerutscht und konnte nicht mehr auf die Beine kommen, denn um sie herum war alles nass und glitschig. Ihr Kopf stieß auch längst nicht mehr an der Decke an, stattdessen brauchte Alice nun dringend beide Hände, um zu schwimmen, denn sie konnte schon nicht mehr stehen, so hoch war das Wasser. Sie hatte den Fächer schnell weggeworfen, denn nur so hatte sie gerade noch im letzten Augenblick verhindern können, dass sie gänzlich verschwunden war und in dem tiefen See unterging, in dem sie sich jetzt über Wasser hielt.

Zuerst glaubte Alice, dass sie vielleicht plötzlich am Meer war und dort Urlaub machte und sie sich doch immer gewünscht hatte, dass das Wasser singen und die Pflanzen sprechen könnten. Aber dann wusste sie: jetzt war sie in einem tiefen See unter der Erde! "Wenn ich nur nicht so viel geweint hätte!", dachte sie dann, während sie aus dem Wasser herauszupaddeln versuchte. Alices zuvor vergossene Tränen waren für die nun winzige Alice zu einem großen See, ja zu einem Meer aus Tränenwellen geworden. Wie sie also so durch das Wasser schwamm, hörte sie ein Geräusch und sah weiter hinten eine andere Gestalt im Wasser. "Dort schwimmt ja ein Flusspferd", dachte Alice; deshalb schlüpfte sie schnell in die Glasflasche, die auf dem Wasser schwamm. In der schaukelte sie dann wie in einer Flaschenpost auf ihren Tränenwellen. Aber nein. Alice erinnerte sich, dass sie ja ganz klein geworden war und - so kombinierte sie - musste das Tier wohl eher so groß wie eine Maus sein. "Wahrscheinlich ist sie auch ins Wasser gefallen", dachte sie. Alice und die Maus schwammen ohne einander etwas zu sagen umher. Es war sehr still, nur das Wasser platschte leise.

Alice vermisste deshalb umso mehr ihre Katze: "Wo ist nur meine Katze," murmelte sie laut und wandte sich dabei zur Maus, denn sie wollte eine Unterhaltung beginnen: "Kennen Sie sich mit Katzen aus?", fragte sie die Maus. Als ihr die Maus nicht antwortete, wollte sie es in einer anderen Sprache versuchen, denn sie konnte ja nicht sicher sein, wo sie sich jetzt befand und ob sie noch verstanden würde. Da erinnerte sie sich an die erste Seite ihres Französischbuches und versuchte es auf Französisch: "Où est mon chat?", sagte sie also zu der Maus und sah, dass die Maus sofort am ganzen Leib zu zittern begann. "Katze!" Die Maus war so erschrocken, dass sie hastig antwortete: "Ich will ganz und gar nicht über Katzen sprechen". "Nun gut", erwiderte Alice und fuhr auf Deutsch fort, denn die Maus war offenbar zweisprachig: "Magst Du Hunde? Ich kannte einmal einen Bauern, der erzählte mir, dass sein Hund auch alle Katzen, Ratten und Mäu…, oh, entschuldige, jetzt habe ich schon wieder Katze gesagt", stockte Alice in ihrer Rede. Die Maus aber war unterdessen vor Angst schnell von Alice weggeschwommen. "Bleib doch hier!", rief ihr Alice nach und dachte bei sich: "Du bist aber sehr schnell eingeschnappt!"

"Komm, lass uns ans Ufer gehen und uns trocknen", rief die Maus Alice von Weitem zu, womit Alice durchaus einverstanden war, denn mittlerweile war der Teich voller kleiner und großer Tiere, die auch ins Wasser gefallen waren und Vögeln, die auf schwimmenden Holzstücken saßen. "Dann erzähle ich Dir, warum ich weder Katzen noch Hunde mag", sagte die arme Maus, die in ihrer panischen Angst vor Katzen aus dem Teich flüchtete.

 

 

 

4. Das Abenteuer vom Wettrennen auf der Tierversammlung

"Wie nass es hier ist. Alles nur wegen dieses großen weinenden Mädchens!", beschwerte sich gerade ein Vogel bei der Maus, als Alice an Land kam. Alice sah, dass außer ihr und der Maus von überall her Tiere aus dem Wasser ans Ufer geschwommen und an Land gekommen waren. Sie gaben unbestreitbar eine sehr merkwürdig anzusehende Versammlung ab, wie sie da am Ufer hockten: Vögel mit verklebtem Gefieder, Pelztiere mit angeklatschtem Fell; allesamt tropfend, verdrießlich und in einem Zustand sichtlichen Unbehagens.

Wie konnten sie nur wieder trocken werden? Das war die große Frage. Da ergriff Lori, der Papagei, das Wort. Er schlug eine Lösung vor, wie alle wieder Fell und Gefieder trocknen sollten. Eifrig mischten sich auch all die anderen Tiere, die Ente, der Marabu, eine Elster, ein Kanarienvogel, ein Krebs, ein Biber, die Eule und die Weihe ein, so dass durch Rede und Gegenrede ein rechtes Tohuwabohu auf der Tierkonferenz entstand.

Welche Methode war denn nun wohl die Geeignetste? Auf welche Lösung konnten sich alle Tiere einigen? Da erhob die Maus ihre strenge Stimme und befahl: "Setzt euch!" Alle verstummten und taten, was die Maus sagte, denn sie hatte offenbar hier das Sagen. "Alle der Reihe nach!", ordnete sie jetzt die Redebeiträge. Als Erstem erteilte sie Dodo, dem Nachtvogel, das Wort. Also formulierte er seinen Vorschlag. Er sprach laut und deutlich und in wichtigem Ton: "Ich schlage vor, dass wir ein Parteitagsrennen veranstalten. Ich organisiere das Rennen!" Dabei begann er einen Kreis auf der Erde zu markieren und sagte: "Dieser Kreis ist die Rennbahn. Jeder stellt sich auf der Kreisumlauflinie auf, da, wo er will und rennt los, wann er will. Fangt also alle am Anfang an und wenn ihr fertig seid mit Rennen, dann hört ihr auf, ja!" Auf dieser Tierversammlung startete das Rennen also nicht wie sonst bei Wettläufen üblich mit "Achtung-Fertig-Los!" und endete auch nicht mit einem Ziellauf, sondern hier liefen alle im Wettlauf um den Kreis wie es jedem beliebte, so dass es nicht leicht herauszufinden war, wann das Rennen eigentlich endete.

Nachdem die Tiere also etwa eine halbe Stunde gelaufen und alle einigermaßen trocken waren, erhob Dodo wieder seine Stimme und rief: "Stop! Ende des Rennens!" Keuchend versammelten sich jetzt alle Tiere um ihn. Sie fragten: "Und? Wer hat gewonnen?" "Alle haben gewonnen und alle bekommen einen Preis", antwortete der Nachtvogel. "Ja! Und wer vergibt die Preise", wollten jetzt die Tiere wissen. "Sie natürlich", sagte Dodo und zeigte auf Alice. Sämtliche Tieraugen hefteten sich auf Alice und alle riefen im Chor: "Ja, Preise! Preise!"

Aber woher sollte Alice denn Preise haben? Sie fasste also schnell in ihre Kleidertasche und - tatsächlich -, sie fischte sogar ein Paar nasse Bonbons heraus. "Ich habe nur diese Bonbons bei mir", sagte sie kleinlaut. "Das ist wunderbar!", riefen all die Tiere. Also verteilte Alice an jedes Tier ein Bonbon. "Alice soll aber auch einen Preis bekommen!", baten jetzt die Tiere. "Natürlich!", sagte Dodo. Doch Alice hatte kein Bonbon mehr, sondern brachte nur noch einen alten Fingerhut aus ihrer Tasche zum Vorschein. "Ja, dann verleihe ich dir diesen Fingerhut als Ehrenpreis", sagte Dodo feierlich und überreichte ihr ihren Fingerhut. Nun, das war wirklich ein sehr merkwürdiges Rennen gewesen und ein ungewöhnlicher Preis.

Aber alle Tiere konnten sprechen, das gefiel Alice, und da das Rennen also vorbei war, fiel ihr wieder ein, dass die Maus ihr doch zuvor eine Geschichte erzählen wollte. "Du hast mir doch versprochen, deine Geschichte zu erzählen. Komm, erzähle sie mir jetzt, und warum du K… und H… nicht ausstehen kannst", sagte sie zu der Maus. "Ja, ja!", riefen jetzt auch all die anderen Tiere, "bitte, erzähl uns deine Geschichte!" "Bei mir ist das aber eine sehr ausführliche Geschichte, so eine mit einem endlos langen Rattenschwanz am Schluss", entgegnete die Maus. Während sich Alice noch den Kopf darüber zerbrach, warum die Maus "Rattenschwanz" gesagt hatte, hatte die Maus auch schon angefangen zu erzählen. Die Maus hatte aber auch gleich bemerkt, dass Alice noch in Gedanken versunken war und sagte beleidigt: "Du hörst mir ja gar nicht zu." Und bevor Alice noch irgend etwas dagegen sagen konnte, war die Maus auch schon aufgesprungen und wieder auf und davongelaufen.

"Komm doch bitte zurück und erzähl uns deine Geschichte!" riefen ihr Alice und die Tiere verständnislos nach. Aber die Maus hörte nicht auf sie und als sie nicht mehr zu sehen war, seufzte der Papagei: "Wie schade, dass sie nicht hier bleiben wollte." Und eine Krabbenmutter sagte zu ihrer Tochter: "Lass dir das eine Lehre sein. Es bringt nichts, die Beherrschung zu verlieren." Alice seufzte laut, hatte wieder einmal Sehnsucht nach ihrer Katze und sagte: "Ach, wenn doch nur Dinah hier wäre. Sie hätte die Maus im Handumdrehen wieder zurückgeholt. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie geschickt sie im Mäuse- und Vögelfangen ist!" Einige der Tiere wurden daraufhin sichtlich unruhig.

"Darf ich fragen, wer Dinah ist", erkundigte sich Lori, der Papagei. Natürlich erzählte Alice sofort bereitwillig von ihrem Lieblingstier: "Wenn ihr sie sehen könntet, wie flink sie im Mäusefangen ist und erst wenn sie Vögel fängt! Sie hat die Vögel bereits im Maul, bevor sie sie überhaupt belauert hat!" Alices Erzählung löste jetzt noch viel größere Aufregung aus. Plötzlich hatten es alle Vogel- und Kleintierarten ausnehmend eilig, nach Hause zu kommen. "Ach, hätte ich doch bloß Dinah nicht erwähnt", bemerkte Alice traurig, als schließlich alle Tiere auf und davon waren. "Dabei ist sie die beste Katze der Welt! Schade, jetzt sind alle weg und ich bin wieder allein." Alice brach wieder in Tränen aus. Sie fühlte sich einsam und vollkommen niedergeschlagen. Da wurde sie wieder von trippelnden Schritten abgelenkt. "Wer mag das sein?", fragte sie sich und wollte zuerst glauben, die Maus sei vielleicht wieder zurückgekehrt, erkannte dann aber bald die Kaninchenstimme.

 

 

 

5. Alice gefangen im Kaninchenhaus

Das Weiße Kaninchen kam eilig suchend und vor sich hin murmelnd dahergesprungen. "Bei meinen Pfoten, meinem Fell und meinen Schnurrhaaren! Die Herzogin, die Herzogin, sie wird mich zum Tode verurteilen, wenn ich zu spät komme! Wo habe ich bloß meine Handschuhe und meinen Fächer verloren?", sagte es. Alice hatte aber gleich gewusst, was es suchte. Es hielt sicherlich nach den Glaceehandschuhen und dem Fächer Ausschau, die sie selbst aufgehoben hatte, bevor sie in ihren eigenen Tränenteich gefallen war.

Sie schaute also ebenfalls um sich, da sie dem Kaninchen seine Sachen zurückgeben wollte, doch um sie herum war seit dem Tränenmeer alles ganz anders geworden: die Halle mit dem Glastisch und der kleinen Tür war fort. Da rief das Weiße Kaninchen ihr zu: "Annemarie, was suchst du hier draußen? Hopp, hopp, lauf sofort nach Hause und bring mir ein Paar Handschuhe und meinen Fächer!"

Alice lief sogleich los, doch wunderte sie sich unterwegs doch: "Es ist schon recht seltsam, wenn man bedenkt, dass mich ein Kaninchen für sein Dienstmädchen hält", sagte sie bei sich. "Botengänge für ein Kaninchen! Na, das Kaninchen wird sich wundern, wenn es herausfindet, wer ich wirklich bin." Da Alice aber gerne wissen wollte, wo das Kaninchen wohnte, lief sie also schnell weiter bis zum Kaninchenhaus, ging hinein, rannte die Treppen hinauf, bis sie in das kleine, ordentlich aufgeräume Schlafzimmer des Kaninchens gelangte. Dort auf dem Spiegelschrank fand sie im Nu Kaninchenfächer und Glaceehandschuhe. Gerade wollte Alice die Wohnung schon wieder verlassen, da fiel ihr Blick auf ein kleines Fläschchen, direkt neben der Hasenbrille auf der Ablage vor dem Spiegel. Diesmal enthielt es keine Aufschrift "Trink mich!", aber die neugierige Alice wollte wissen, was passierte, kostete sie auch von dieser Flüssigkeit. "Denn irgendetwas geschieht ja immer, wenn ich hier etwas esse oder trinke", dachte sie bei sich und sie wollte sowieso wieder etwas größer werden. Also nahm sie einen Schluck, dann noch einen.

Aber, ach! Sie hatte die Flasche gleich ganz leer getrunken und nun war es zu spät. Der Flascheninhalt machte sie tatsächlich größer, aber viel rascher, als sie sich hätte träumen lassen. Sie wuchs und wuchs, so dass sie in dem kleinen Zimmer bald keinen Platz mehr hatte, ja, ihr Kopf schon an die Decke stieß und ihr Hals bereits zu brechen drohte. Weil sie immer größer wurde, musste sie auf den Boden knien und sich gleich darauf sogar auf den Boden legen und dort zusammenkauern. Die Wirkung des Wunderfläschchens ließ erst nach, als ihr Arm bereits aus dem Fenster ragte, ihr Bein aus dem Schornstein guckte und die Zimmerwände schon knarrten und ächzten. Jetzt hatte die kleine Zauberflasche zwar ihre volle Wirkung entfaltet, Alice wuchs also glücklicherweise nicht mehr weiter, aber sie befand sich doch in einer ganz unangenehmen Lage.

Sie fühlte sich, als hätte sie sich in ein kleines Puppenhaus hineingequetscht. "Zuhause hätte sie genügend Platz und würde nicht von allen möglichen Tieren herumkommandiert", dachte sie jetzt traurig bei sich und fragte sich, was denn jetzt bloß mit ihr geschehen solle. Als sie einige Minuten später draußen wieder die Kaninchenstimme vernahm, horchte sie auf. Es rief ungeduldig: "Anne! Annemarie! Meine Handschuhe! Wo bleiben meine Handschuhe?" Alice aber antwortete nicht, denn sie wusste sich selbst nicht zu helfen. Also wollte das Kaninchen in das Haus hereinkommen. Vergeblich versuchte es schon die Tür zu öffnen. Aber es war natürlich nicht möglich, weil Alice das gesamte Haus ausfüllte. Alice bemerke, dass das Kaninchen nun offenbar beschlossen hatte, außen herumzugehen und durch das Fenster einzusteigen. Sie hörte, wie es mit einer Leiter hantierte und begann sich plötzlich vor dem Kaninchen zu fürchten.

Alice wußte zwar, dass das völlig unbegründet war, denn sie war ja um ein Vielfaches größer als das Hoppeltier, aber dennoch begann sie vor Angst zu zittern, so dass mit ihr das ganze Haus wackelte. Draußen drehte sie jetzt ihre Handgelenke hin und her, um das Einsteigen des Kaninchens zu verhindern und von dort hörte sie das besorgte Kaninchen schimpfen. Mittlerweile waren offenbar noch andere Personen zum Kaninchenhaus gekommen, denn Alice hörte, wie sich das Kaninchen mit einem Bauern, der Klaps hieß, beriet. "Wer kann das sein in meinem Haus, Klaps, und was ist das, was da aus dem Fenster ragt?", fragte ihn das Kaninchen. "Ein Arm, Euer Gnaden!" antwortete Klaps und eine andere männliche Stimme flüsterte: "Die Sache ist mir unheimlich!" "Jetzt hat sich die Hand bewegt", sagte Klaps dann aufgeregt. Alice hörte immer mehr und mehr Stimmen, die alle beratschlagten, was für ein Wesen wohl in dem Haus sei und ob es ein Monster wäre. "Das Kaninchen hat sich also Verstärkung geholt und draußen, vor dem Haus, ist eine ganze Versammlung entstanden", stellte Alice jetzt bei sich fest.

Einer der Helfer, eine Eidechse, die Zettel hieß, sollte nun offenbar in den Schornstein krabbeln, um von oben in das Kaninchenhaus einzudringen und das seltsame Wesen aus dem Haus zu jagen. Da wusste sich Alice allerdings zu helfen! Sie zog ihr Bein ein wenig an, so dass sie es nach oben stoßen konnte, und als das Tierchen in den Schornstein geklettert war, katapultierte sie es in hohem Bogen aus dem Schornstein hinaus.

Die arme Eidechse war ziemlich verstört irgendwo im Garten gelandet und draußen herrschte nun zunächst einmal Stille. Einige halfen offenbar Zettel, der Eidechse, wieder auf die Beine zu kommen und andere Helfer berieten sich mit dem Kaninchen. "Wir müssen das Haus in Brand stecken!" beratschlagten sie. Aber da kam jemand auf eine andere Idee. Nach ein, zwei Minuten hörte Alice ein Rumoren. Dann kam plötzlich ein Hagel winziger Kieselsteine durch das Fenster geprasselt. "Lasst das bloß sein", rief Alice jetzt, doch dann bemerkte sie, dass die Kieselsteine zu winzigen kleinen Kuchen wurden, sobald sie auf den Fußboden fielen. Ihre Aufmerksamkeit fiel jetzt ganz auf das Gebäck und ihr kam eine Idee: "Ich bin sicher, wenn ich etwas von diesen Kuchenstückchen esse, werde ich wieder meine Größe verändern." Sie wollte es gleich ausprobieren, nahm also einen kleinen Kuchenkrümel vom Boden und aß ihn. Glücklicherweise zeigte er die gewünschte Wirkung, Alice begann zu schrumpfen!

"Zuerst will ich wieder zu meiner richtigen Größe gelangen und als Zweites will ich endlich in den schönen Garten gehen", sagte sie dabei zu sich. Sobald sie endlich wieder die richtige Größe hatte, um sich im Kaninchenhaus zu bewegen und die Treppe wieder hinabsteigen zu können, sprang sie auch schon aus dem Haus, rannte, so schnell sie konnte, an dem Weißen Kaninchen, an Zettel, der Eidechse und Klaps, dem Bauern, den Meerschweinchen und all den anderen Tieren vorbei, die vor dem Haus versammelt waren, und sie aufhalten wollten. Sie durchquerte Hals über Kopf die Wiese, lief dort im Schatten von Wildrosen, Glockenblumen, Schafgarben, Veilchen und Gräsern, machte einen momentlang unter einer Butterblume Rast und suchte schließlich unter einer Distel Schutz.

Kaum hatte Alice aber etwas verschnauft, da hörte sie ein sehr lautes Bellen. "Schon wieder ein Tier in meiner Nähe", dachte sie. Diesmal war es ein Hund, nicht weit von ihr auf der Wiese. "Er ist ja mindestens so groß wie ein Pferd", stellte Alice erstaunt fest, denn der Hund war mindestens zehnmal größer als sie. Deshalb fürchtete sie, er könnte ihr gefährlich werden. Also nahm sie einen Stock und warf ihn, so weit sie nur konnte in hohem Bogen in seine Richtung. Der Hund rannte nach dem Stock und Alice flugs in die andere Richtung. Sie lief weiter in Richtung des nahegelegenen Waldes, wo sie endlich einen Pilz fand, unter dessen Dach sie ausruhen wollte. "Gerettet!" Sie wusste, dass sie hier im Wald wieder unbedingt etwas zu essen oder zu trinken finden musste, um wieder größer zu werden. Mittlerweile war sie sich aber auch sicher, dass sie in dieser Welt unter der Erde, immer irgendwo etwas finden würde. Doch sie musste sich vorsehen, denn sogar die Blumen waren größer als sie gewesen und auch der Pilz war in etwa genauso hoch wie Alice selbst. Nachdem sie etwas verschnauft hatte, begann sie den Pilz, der ihr Obdach bot, von unten und bald auch von allen Seiten genau zu betrachten. Dann schaute sie auch nach oben, auf die Kappe des Pilzes, und dort sank ihr Blick in die Augen einer großen blauen Raupe, die auf dem Pilz saß und gemächlich eine Wasserpfeife rauchte.

 

 

 

6. Alice folgt dem Rat einer Raupe

Sie schauten sich eine Weile schweigend an, derweil die Raupe an ihrer Wasserpfeife zog. Schließlich nahm die Raupe ihre Pfeife aus dem Mund und fragte: "Mmh, wer bist denn du?" "Nun ja," antwortete Alice zögernd, denn das war nicht gerade ein angenehmer Gesprächsbeginn für sie, "das weiß ich in diesem Moment selbst nicht so genau, Sir. Heute morgen war ich mir noch ganz sicher, und hätte ihnen antworten können. Aber jetzt? Wissen Sie, ich habe mich heute früh schon mehrmals verändert. Ich bin immerzu größer und kleiner geworden." "Was soll denn das heißen, hä? Erkläre dich!", fragte die Raupe streng.

"Nun ja, das kann ich ja gerade nicht erklären, fürchte ich, Sir!" antwortete Alice schüchtern, "weil ich nicht ich selbst bin, sehen sie". "Ich sehe gar nichts!", erwiderte die Raupe. "Es ist sehr verwirrend. Sie können sich das sicherlich vorstellen weil sie ja selbst ein Meister der Verwandlungskunst sind…", fuhr Alice fort. "Kann ich nicht", kam die barsche Antwort der Raupe. "…Und sich von ihrem jetzigen Zustand einer Raupe in einen Kokon einspinnen und so zur Puppe werden, und wenn sie erwachsen sind sich schließlich wieder entpuppen zum flatternden Schmetterling. Das ist doch sonderbar, nicht wahr." "Ist es ganz und gar nicht", sagte die Raupe. "Also ich weiß, das wäre für mich sonderbar!" "Ja, für dich!", sagte die Raupe. "Wer bist denn du?" "Oh, nein!", rief Alice aus, denn damit waren sie just wieder am Beginn ihrer Unterhaltung angelangt. "Na, das kann ich ja gerade nicht beantworten!", und dann entgegnete sie: "Ich finde, sie sollten mir zuerst einmal sagen, wer sie sind".

Als sich die Raupe wieder, anstatt zu antworten, in Schweigen hüllte, wollte Alice nicht weiter betreten dastehen, sondern drehte sich einfach weg, ließ die blaue Raupe stehen und wollte gerade davongehen. "Früher, als ich Märchen las, dachte ich immer, dass diese Dinge nur in Geschichten vorkommen. Aber jetzt bin ich selber in solch einem Märchen drin", dachte Alice bei sich. Da vernahm sie wieder die rauchige Stimme der Raupe. "Komm wieder zurück!", rief die Raupe, "Ich muss dir etwas Wichtiges sagen." Alice drehte also doch wieder um und wartete darauf, was die Raupe ihr sagen wollte.

"Du meinst also, du wärst jemand anderes?", fragte die Raupe. Dann folgte ein erneutes minutenlanges Schweigen. Alice erwiderte ganz verstört: "Ich fürchte ja! Sieh mal, ich wollte zum Beispiel das Gedicht >Gegen Müßiggang und Ungedeih< aufsagen. Es handelt von Bienen, aber statt den eigentlichen Gedichtversen kam etwas anderes, nämlich ein Gedicht von einem Krokodil, das Fische verschlingt, heraus, alles ganz anders und ganz verdreht!" "Dann sag jetzt >Du bist alt, Vater Wilhelm< auf!", sagte die Raupe und wieder folgte minutenlanges Schweigen. Alice versuchte, das Gedicht jetzt aufzusagen. Sie sagte nämlich gerne Gedichte auf, deshalb fiel es ihr gewöhnlich nicht schwer; aber auch diesmal merkte sie, dass ihr auch für dieses Gedicht nicht mehr die passenden Reime und Verse einfielen. Nach ihrem Vortrag herrschte wieder langes Schweigen und wieder unterbrach die Raupe die Stille und fragte: "Wie groß möchtest du sein?" "Nun ja, die genaue Größe ist gar nicht so wichtig, nur der ständige Wechsel ist unangenehm, doch ein wenig größer würde ich schon gerne sein. 7 1/2 Zentimeter ist doch eine erbärmliche Größe", sagte Alice. "Sag das nicht", erwiderte die Raupe zornig und richtete sich der Länge nach vollkommen auf. "Ganz im Gegenteil! Das ist eine schöne Größe! Ich bin genau 71/2 Zentimeter groß." Alice bemerkte jetzt, dass sie die Raupe beleidigt hatte und wollte ihr noch einmal erklären, dass es eben für sie sehr verwirrend war, unentwegt größer und kleiner zu werden. Doch die Raupe nahm schweigend noch ein paar Züge aus der Wasserpfeife, glitt dann von dem Pilz herab, krabbelte ins Gras und kroch davon.

Alice fühlte sich an ihr vorheriges Treffen mit der Maus erinnert und dachte: "Wenn hier bloß nicht alle so empfindlich wären!" Im Fortgehen sagte die Raupe noch geheimnisvoll: "Eine Seite wird dich größer machen, die andere kleiner." "Die eine Seite von was?", fragte sich Alice gerade, da antwortete die Raupe, als könne sie Gedanken lesen: "Vom Pilz". Hellhörig geworden schaute sich Alice daraufhin den Pilz genau von allen Seiten an. Wo sollte sie denn bloß beginnen? Wo waren denn bei einer runden Pilzkappe rechts und links? Alice rief der Raupe noch schnell, bevor sie davongekrochen war, zu: "Welche Seite ist denn rechts und welche links?" "Die Seite vom Pilz!", erwiderte die Raupe. Oh, nun wusste Alice wirklich nicht mehr als zuvor.

Aber irgendwo musste sie doch beginnen. "Besser hier oder schlechter da, oben oder unten, rechts oder links?" Da sie keine Lösung fand, umfasste sie den Pilzhut mit beiden Armen und brach mit beiden Händen einfach jeweils an den Stellen ein Stück ab, wo die Hände angelangt waren. Um zu sehen wie die Wirkung war, biss sie gleich in das der beiden Stücke hinein, das sie in der rechten Hand hielt. "Uuuii!", rief sie beängstigt aus. Schneller als sie denken konnte hatte sich ihr Körper in die Tiefe bewegt. Sie war nun so geschrumpft, dass zwischen ihrem Fuß und ihrem Kinn nur noch ein winzig kleiner Schlitz frei war, um gerade noch von dem Pilzstück in ihrer anderen Hand auch einen Krümel hineinschieben zu können, und als sie ihren Mund wieder richtig öffnen konnte, knabberte sie noch einmal in das Pilzstück in ihrer linken Hand hinein. Nun schoss sie aber dermaßen in die Höhe, so sehr, dass ihr ganz schwindelig wurde und sie eine Weile brauchte, um festzustellen, was denn nun wieder mit ihrem Körper passiert war. Sie sah ihre Hände und Füße überhaupt nicht mehr. Stattdessen blickte sie auf ein grünes, sich im Wind wiegendes Blättermeer.

Sie war über die Bäume im Wald hoch hinausgewachsen, unter denen sie zuvor umher gelaufen war, und schaute jetzt über alle Baumkronen hinweg. Sie betrachtete sich und stellte fest, dass sie einen meterlangen dünnen Hals bekommen hatte, der wie bei einer Giraffe sehr biegsam war, nur um ein Vielfaches länger und dünner als bei Giraffen. Dort oben in der Luft kam jetzt auch schon eine böse gurrende Taube auf sie zugeflogen. "Schlangen haben hier nichts zu suchen!", kreischte diese und flog aufdringlich flügelschlagend um Alices Kopf herum. Die Taube hatte sie also mit einer Schlange verwechselt! Alice protestierte zwar, konnte aber die Taube nicht davon überzeugen, dass sie keine Schlange, sondern ein kleines Mädchen war. Denn tatsächlich sah sie nicht danach aus. "Wenn du keine Schlange bist, was bist du denn dann, hä?", äffte die Taube und fuhr fort: "Du suchst meine Eier, gib es doch zu! Wenn nicht, dann mach, dass Du wegkommst!" Tatsächlich pfiff die Taube in sehr unverschämtem Ton. Alice aber hatte nichts anderes im Sinn als wie sie an ihre rechte Hand mit dem Pilzstück kommen könnte, um wieder davon abzubeißen und ihre Größe zu regulieren.

Sie versuchte, ihren Kopf unter die Baumkronen zu beugen, musste es aber viele Male probieren, weil sich ihr Hals immer und immer wieder um die Äste und Zweige der Bäume schlang. Sie schaffte es mühevoll, sich aus den Ästen zu winden und es gelang ihr, wieder ein Pilzstückchen abzuknabbern und gleich merkte sie erleichtert, wie sie nach und nach wieder zu ihrer regulären Größe kam. "Wenigstens bin ich wieder auf meine richtige Größe gekommen!" sagte sie tröstend zu sich selbst, denn endlich konnte sie sich wieder bewegen, wie sie wollte, und ihrem gefassten Plan folgen. "Als nächstes will ich endlich in den bezaubernden Garten gehen", beschloss sie bei sich.

Und während sie über all das Größerwerden, Kleinerwerden und wie sie in den Garten gelangen könnte nachdachte, war sie unversehens auf eine Lichtung geraten, auf der ein kleines Haus stand. Das Haus war gerade mal so hoch wie ein Tisch, also dachte Alice, musste sie ihre Größe noch stärker verändern, um den Hausinsassen nicht als Riesin zu begegnen. Schnell nahm sie noch einen kleinen Bissen von dem restlichen Pilzstück, das sie in der rechten Hand hielt - es war ja das, welches sie kleiner machte - und zuletzt leckte sie noch ein wenig daran. So kam sie genau auf die Größe, die sie wollte. Ja, sie war bereits geübt im Größer- und Kleinerwerden und kannte sich damit jetzt schon besser aus! In ihrer jetzigen Gestalt wagte sie es schließlich, sich dem Häuschen zu nähern. Es war etwas über einen Meter hoch und Alice maß in etwa 22 cm, so dass sie gerade die geeignete Größe dafür hatte, sich dort zu bewegen.

 

 

 

7. Die Geschichte vom Schweinebaby

Alice stand noch eine Weile am Waldesrand und überlegte, was sie dort bei dem Häuschen anfangen sollte; dabei beobachtete sie aus der Ferne, wie ein Lakai in einem Livreeanzug und mit einem Fischgesicht auf das Haus zulief und dort einen Briefumschlag überbrachte, der so groß war wie er selbst.

"Das ist doch ein Fisch in Uniform!", wunderte sich Alice und beobachtete, wie er den Brief umständlich abstellte und an die Tür klopfte, wo ihm ein anderer Lakai öffnete, der ebenfalls eine Livree trug. Allerdings hatte dieser ein Froschgesicht. Beide Figuren waren ungewöhnlich herausgeputzt, hatten weiß gepudertes Haar, das in Locken um ihren Kopf lag und an den Seiten in Schillerlocken herabhing. Alice hörte, wie der Fischlakai zum Froschlakai sagte: "Eine Einladung von ihrer Majestät, der Königin, zum Krocketspiel."

"Es musste sich also um ein herrschaftliches Haus handeln, wenn hier Diener in Uniform und gepuderten Perücken arbeiteten", dachte Alice bei sich und wieder fand sie, dass sie solche Bilder bisher nur aus Märchen kannte. Als der Fischlakai wieder weg war, kam sie neugierig näher, ging langsam auf die Tür des Hauses zu und klopfte an. Von innen drang ohrenbetäubender Lärm nach draußen. Plötzlich öffnete sich die Tür mit Karacho von selbst und herausgeflogen kam in hohem Bogen ein großer Teller, der im Flug sogar die Nase des Froschlakais streifte, der inzwischen im Garten saß, dann weiter flog und an einem nahegelegenen Baum zerschellte. Der Froschlakai aber blieb davon ganz unbeeindruckt und meinte zu Alice, dass sie nicht anzuklopfen brauche und auch nicht hineingehen müsse, weil sie bereits drinnen sei.

Alice stutzte. "Drehte sich nun die Welt ganz und gar, wie ein Karrussell", fragte sie sich. "Nicht genug, dass sie bisher alle Viertelstunde größer und kleiner geworden war und nicht mehr genau gewusst hatte, wo oben und unten war. Jetzt sollte sie auch noch drinnen und draußen, hier und da, vorne und hinten nicht mehr kennen? Das war ja zum Auswachsen!" Alice ließ den Froschlakai einfach links liegen und ging geradewegs in das Haus hinein. "Hatschiiii", nieste sie beim Eintreten laut, anstatt sich vorzustellen. Jetzt stand sie in einer total mit Feuerqualm verrauchten Küche, in der eine mürrisch dreinblickende Köchin in einem großen dampfenden Suppentopf rührend am Herd stand, auf dem gleichzeitig eine Teekanne tutete und pfiff. Sie pfefferte die Suppe immer wieder aus einer großen, reich verzierten Pfefferdose.

Neben dem Herd hockte eine still und breit vor sich hin grinsende große Katze. Auf einem Hocker mitten im Raum saß die Herzogin und wiegte ein heulendes und ununterbrochen niesendes Baby im Arm. Alice beobachtete, wie die Köchin unentwegt die Suppe pfefferte und dann mit einem Messer eine Tasse durchschnitt, um aus der halben Tasse Tee zu trinken. Im Nu war die Tasse leer und sie schenkte sich wieder nach. Auch die Herzogin trank - wie die Köchin - eine Tasse Tee nach der anderen, während die Tassen und das Geschirr auf dem Regal schepperten und klirrten. Die Köchin nahm die Suppe vom Herd und begann plötzlich, Töpfe und allerlei Geschirr nach der Herzogin zu werfen. Die aber reagierte nicht einmal, als das Porzellan sie traf und in Scherben zu Boden fiel. Einer der Teller segelte sogar so nah an dem Baby vorbei, dass es dessen Nase streifte, aber niemand machte sich etwas daraus, außer, dass das Wickelkind noch lauter weinte als es sowieso schon heulte. Alice schaute sich das gesamte Spektakel an und überlegte, wie sie eine Persönlichkeit wie die Herzogin wohl ansprechen sollte.

"Mit Verlaub, warum grinst Ihre Katze so?", fragte sie schließlich etwas schüchtern. "Weil es eine Grinsekatze ist", antwortete diese, dabei unaufhörlich das weinende Baby heftig im Arm auf und abschaukelnd. Dann rief die Herzogin, plötzlich in Eile: "Fast hätte ich es vergessen, ich muss mich fertig machen für das Krocketspiel bei der Königin." Flink wandte sie sich Alice zu: "Hier! Du kannst das Baby auch mal schaukeln. Fang es auf!", dabei warf sie das Neugeborene Alice bereits durch die Luft entgegen. Alice konnte das Baby gerade noch rechtzeitig auffangen, da war die Herzogin auch schon auf und davon. Alice schaute sich das Baby nun aus der Nähe an. Es war ein merkwürdig unförmiges Geschöpf. Alice hatte Schwierigkeiten, es im Arm zu behalten, so zappelte die kleine Kreatur. Ja, und es weinte zwar, aber aus seinen Augen quollen überhaupt keine Tränen. Außerdem glich sein Aussehen mehr einem Schweinchen als einem Menschenbaby, ja, es grunzte sogar.

Alice dachte: "Aber wenn ich es nicht mitnehme, haben sie es hier binnen weniger Tage umgebracht." Also behielt sie es auf dem Arm. Wieder grunzte das kleine Ding! War es tatsächlich ein Schweinebaby? Nun, die Nase glich tatsächlich einer Schnauze und die Augen waren wirklich auffallend klein. "Wenn du ein Schwein wirst, dann will ich dich nicht behalten", sage sie zu dem Baby in ihrem Arm und ging mit ihm an die frische Luft. Sie betrachtete das Tier im Freien draußen noch genauer und dachte darüber nach, was sie wohl mit einem Schweinchen anfangen sollte, wenn sie wieder zuhause war und kam zu dem Schluss, "ja, es ist - so finde ich - zwar ein gutaussehendes Schweinebaby, aber ich will es nicht behalten." Also setzte sie es ins Gras und war erleichert, als sie es über die Wiese davonlaufen sah.

Wie sie noch so über das Ferkel nachdachte, bekam sie einen Höllenschreck, denn sie bemerkte über sich im Baum plötzlich auf einem Ast sitzend die schwarze, breit grinsende Katze aus dem Haus der Herzogin. "Cheese, cheese, cheese… Miez, miez", lockte Alice sie, denn sie beschloss, die Katze freundlich anzusprechen. Sie hatte ziemlich lange Krallen und zeigte eine ganze Menge großer, scharfer gebleckter Zähne. "Kannst du mir sagen, wie ich von hier aus weitergehen soll?", fragte sie. "Das kommt ganz darauf an, wohin du gehen möchtest", säuselte die Katze. "Das ist egal. Ich möchte nur irgendwo ankommen", erwiderte Alice, die jetzt schon wieder etwas mehr Mut gefasst hatte. "Dann mußt du nur lange genug gehen, dann wirst du sicher irgendwo ankommen", entgegnete daraufhin die Grinsekatze. "Welches aber ist die genau richtige Richtung und wer wohnt dort?", wollte Alice nun wissen. "In dieser Richtung wohnt ein Hutmacher und in dieser Richtung ein Märzhase. Es ist egal, zu wem du gehst, alle beide sind verrückt", war die Antwort der schwarzen Katze. "Aber ich möchte nicht zu verrückten Personen gehen", sagte Alice. "Das wird schwer möglich sein, denn wir sind hier alle verrückt. Ich bin verrückt, du bist verrückt", sagte die Katze zu Alice, als ob sie Gedanken lesen könnte. "Woher willst Du wissen, dass ich verrückt bin?", sagte Alice. "Du musst verrückt sein, sonst wärst Du nicht hier", antwortete die Katze und gab ein langes, wohliges, aber doch eher nach einem Hund klingendes "rrrr" von sich. "Sieh mal, ich wedle mit dem Schwanz, wenn ich verärgert bin und ich knurre, wenn ich mich wohl fühle", sagte die Katze. "Ich nenne das schnurren, nicht knurren", verbesserte Alice. "Ach, nenn es, wie du willst!", antwortete die Katze und fragte Alice dann:

"Spielst Du heute auch Krocket bei der Königin?" "Das würde ich zwar gerne, aber ich bin leider nicht eingeladen", sagte Alice. "Dann treffen wir uns dort!", bestimmte die Katze und löste sich in Luft auf. Während Alice noch antworten wollte und ungläubig auf die Stelle sah, wo die Katze soeben verschwunden war, erschien das Katzengesicht plötzlich wieder aufs Neue und fragte: "Übrigens, was ist aus dem Baby geworden?" Als Alice sagte, es habe sich in ein Schweinchen verwandelt, verschwand die Katze wieder und murmelte: "Das habe ich mir gedacht." Alice wartete noch eine Weile, weil sie dachte, die Katze erschiene noch einmal, ging aber, als das nicht geschah, ihrer Wege in die Richtung des Hauses des Märzhasen.

Auf ihrem Weg schaute sie zufällig hinauf in einen Baum und wollte zuerst ihren Augen nicht trauen: dort saß schon wieder die Katze auf einem Ast. "Sag mal, hast Du Schwein oder Reim gesagt?", fragte die Katze diesmal. "Schwein!", fiel Alice stotternd zu sagen ein. Ihr müsst wissen, Alice war mittlerweile schon ganz schwindelig vom ständigen Erscheinen und Verschwinden der Katze. "Nun gut, diesmal will ich ganz langsam verschwinden", sagte dann die Katze, die Gedanken lesen konnte, und verschwand diesmal nach und nach. Zuerst der Schwanz, dann ihr Körper, und zuletzt blieb der Kopf noch grinsend in der Luft stehen. Dann war nur noch ihr Grinsen da und schließlich löste sich auch das ganz langsam in Luft auf. Alice schaute auf die Stelle, wo die Grinsekatze eben verschwunden war und war stumm vor Verwunderung. So etwas hatte sie noch nie gesehen.

Sie wusste zwar, dass sie schon Katzen ohne Grinsen gesehen hatte, aber noch nie Grinsen ohne Katze. Als Alice über all das nachdachte, fand sie, dass es die verwunderlichste Sache war, die sie je gesehen hatte. Derweil war sie weiter gegangen und näherte sich einem Haus, von dem sie annahm, dass es das Märzhasenhaus war, denn das Dach war mit Fell bedeckt und der Schornstein hatte die Form von Hasenohren. Alice biss schnell noch ein wenig von dem Pilzrest ab, den sie die ganze Zeit in der linken Hand hielt, um wieder etwas größer zu werden und war nun etwa 60 cm groß. Sie sah von weitem den Hutmacher, den Märzhasen sowie eine kugelig eingerollt schlafende Haselmaus an einem großen Gartentisch unter einem Baum sitzen.

 

 

 

8. Alices Abenteuer auf der verrückten Nicht-Geburtstagsparty

Sobald der Hutmacher und der junge Märzhase Alice sahen, riefen sie ihr einstimmig zu: "Kein Platz, alles besetzt!" Alice aber kam trotz des unfreundlichen Empfangs näher, denn sie sah, dass der lange Tisch für eine große Gesellschaft gedeckt, aber niemand außer ihr weit und breit zu sehen war. Also setzte sie sich dennoch in einen Lehnstuhl am Kopfende der Tafel. "Möchtest du Wein?", fragte sie sogleich der übermütige Märzhase. "Aber es gibt doch gar keinen Wein. Ich sehe nur Tee", erwiderte Alice und fügte hinzu, es sei sehr unhöflich, dass sie sich nicht setzen sollte, wo doch so viele unbesetzte Stühle um den Tisch standen.

"Warum ist der Rabe kein Schreibtisch?", gab ihr der Märzhase zur Antwort. "Aha! Jetzt hatte er ihr also ein Rätsel aufgegeben, anstatt mit einem erklärenden Satz zu antworten." Das gefiel Alice, obwohl sie natürlich gleich merkte, dass sie erneut in eine wunderliche Gesellschaft geraten war. Doch Rätselraten war eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen. "Na, wirst du das Rätsel lösen?", fragte der Hase. "Aber natürlich!", antwortete Alice rasch. "Dann solltest du sagen, was du meinst", sagte der Märzhase. "Das werde ich!", trumpfte Alice auf. "Wenigstens…, wenigstens meine ich, was ich sage." "Das ist keineswegs dasselbe. Denn dann könntest du genauso gut sagen: Ich esse, was ich sehe ist das Gleiche wie ich sehe, was ich esse!", mischte sich der Hutmacher ein. "Ja, oder: Ich mag was ich bekomme ist dasselbe wie ich bekomme was ich mag!", setzte der Märzhase hinzu. "Ja, genauso gut könntest du sagen…", schloss sich nun auch die Haselmaus an, die dabei war, ihren Winterschlaf zu beenden und deshalb immer wieder abwechselnd einschlief und aufwachte, "…Ich atme, wenn ich schlafe ist dasselbe wie ich schlafe wenn ich atme." "Na, bei dir ist das tatsächlich der Fall!", sagte der verrückte Hutmacher zur Haselmaus. Er trug einen riesigen Hut, der halb so groß war wie der ganze Hutmacher selbst, müsst ihr wissen. Nun waren so viele Vergleiche, die wirklich nicht dasselbe darstellten, aneinandergereiht, dass im Garten Stille eingekehrt war und jeder über das Rätsel mit dem Raben und dem Schreibtisch nachdachte.

Dann holte der Hutmacher seine Taschenuhr aus der Hosentasche, schüttelte sie heftig und fragte: "Welchen Tag haben wir heute?" "Es ist der Vierte", antwortete Alice. "Ah! Dann geht meine Uhr zwei Tage nach", schimpfte der Hutmacher und beschwerte sich beim Märzhasen darüber, dass in seiner Uhr Brotkrümel waren und der Hase das Uhrwerk also mit schlechter Butter geölt habe. Der Märzhase nahm die Uhr, tunkte sie ein paar Mal hintereinander in die Teetasse. "Vielleicht hilft ein kleines Teebad!", sagte er dabei und schaute dann auf die Uhrzeiger, ob sie nun wieder besser liefen. "Was für eine lustige Uhr", sagte Alice unterdessen, "die anstatt der Uhrzeit die Tage anzeigt." "Warum nicht? Zeigt deine Uhr denn das Kalenderjahr an?", murrte der Hutmacher. "Aber natürlich nicht!", rief Alice. "Das Jahr dauert doch viel zu lange, deshalb zeigt die Uhr die Stunden an." "Nun, dann ist deine Uhr ja wie meine", sagte daraufhin der Hutmacher.

Was der Hutmacher da sagte, erschien Alice nun wirklich vollkommen verwirrend und sie fragte sich, ob nun sie selbst oder die Uhr total verrückt geworden war. Des Hutmachers Worte brachten sie total durcheinander, dennoch waren sie aber in einen verständlichen Satz gekleidet und auf Deutsch formuliert. Nur was der Hutmacher sagen wollte, konnte niemand verstehen. "Ich verstehe dich nicht recht", sagte Alice höflich, währenddessen der Hutmacher Tee über die Nase der Schlafmaus kippte und sich daraufhin wieder Alice zuwandte und fragte: "Hast du das Rätsel mit dem Raben und dem Schreibtisch schon gelöst?" "Na, hast du die Antwort?", fragte auch der Hase. "Nein", antwortete Alice erschöpft, "ich gebe zu, ich habe nicht die leiseste Ahnung. Was ist also die Lösung?" "Ich habe nicht die geringste Ahnung", antwortete der Hutmacher. "Ich auch nicht," tönte der Märzhase. Die Schlafmaus blieb still, denn sie machte gerade wieder ein Nickerchen. "Nun, ich finde, ihr solltet eure Zeit nicht mit Rätseln vergeuden, die ihr selbst nicht lösen könnt," sagte Alice jetzt bestimmt.

"Die Zeit? Weißt du…", seufzte nun der Hutmacher und begann zu erzählen, dass er sich mit der Zeit im Frühling des vergangenen Jahres zerstritten habe und es deshalb bei ihm immer fünf Uhr bliebe. Vor jenem Frühling sei er mit der Zeit gut befreundet gewesen und habe mit ihr allerlei lustigen Schabernack getrieben.

"Stell dir vor, es wäre acht Uhr morgens und du könntest mit der Zeit sprechen, so dass es im Nu 13 Uhr mittags und Zeit zum Mittagessen wäre." "Oh, das wäre wunderbar! Nur hätte ich dann noch keinen Hunger!", rief Alice fröhlich, denn das war eine sehr angenehme Vorstellung, selbst bestimmen zu können, ob und wann sie zur Schule gehen würde. "Du könntest es dann so lange ein Uhr sein lassen, wie du wolltest", erwiderte der Hutmacher, "bis du Hunger hast." "So macht ihr es hier, nicht wahr?", erkundigte sich Alice nach kurzem Nachdenken. "Nein, bei uns ist das anders. Das habe ich nicht selbst veranlasst", antwortete der Hutmacher plötzlich wieder ernst und erzählte die Geschichte, wie es dazu gekommen war, dass die Uhrzeit stehen geblieben war: "Es war auf dem großen Konzert der Herzkönigin. Da habe ich ein Lied vorgetragen. Du kennst es sicherlich. Es begann so:

Rabimmel rabammel ra bum bumm bumm

Dann kam die erste Liedstrophe:

Ich geh und schau in die Ferne
Und die Ferne schaut zu mir.
Dort oben leuchten die Sterne,
Hier unten flunkern wir.

Mein Stern heißt Laus,
Auf dem Tablett sitzt die Maus,
Rabimmel rabammel ra bum bumm bumm.

"Ja, es kommt mir bekannt vor," sagte Alice während die Haselmaus immer weiter "rabimmel, rabammel ra bum bumm bumm" sang und sich dabei schüttelte. Der Hutmacher kniff die Haselmaus in ihren schönen weichen Pelz, damit sie endlich aufhörte und fuhr fort: "Aber die Königin sprang auf, unterbrach meinen Gesang und brüllte völlig außer sich: 'Das Versmaß stimmt nicht und das Wortspiel ist nicht richtig! Du hast den Takt und die ganze Zeit kaputt gemacht!' Dann befahl sie ihren Soldaten: 'Köpft ihn. Er hat die Zeit tot geschlagen.' Nun, seit jenem Tag ist die Uhr stehen geblieben. Sie geht nicht mehr weiter und es bleibt immer fünf Uhr. Bei uns ist es deshalb immer Teatime und wir haben nie Zeit, das Geschirr abzuwaschen", seufzte der Hutmacher und schaute dabei auf seine Uhr.

"Es ist fünf Uhr, wir wollen alle einen Platz weiterrücken", sagte er dann in die Runde und rutschte einen Stuhl weiter. Die Haselmaus folgte ihm, indem sie behende auf den nächsten Stuhl hüpfte, und der Märzhase rückte auf den Platz der Haselmaus vor. Alice nahm dann den Platz des Märzhasen ein, goss sich selbst etwas Tee in die Tasse und nahm sich eine Butterbrotschnitte.

Dann lauschte sie einer neuen Geschichte, die die Haselmaus zu erzählen begonnen hatte. Sie handelte von drei kleinen Schwestern, die auf dem Rand eines Sirupglases wohnten. "So etwas gibt es nicht!", protestierte Alice. Aber der Hutmacher und der Märzhase legten den Finger auf den Mund und machten "Pst!" So fuhr die Haselmaus fort: "Die drei Schwestern lernten mit Himbeersirup zu malen. Sie malten alle Dinge, die mit M begannen, zum Beispiel den Mond, Mausefallen, Malen. Hast du schon einmal gesehen wie jemand das Malen malt?", fragte sie Alice. "Jetzt, wo du mich fragst", sagte Alice und versuchte sich zu erinnern. "Dann sei still, wenn du es nicht weißt!", unterbrach sie der Hutmacher. Das war zuviel! Alice wollte die Unfreundlichkeit des Hutmachers jetzt wirklich nicht mehr weiter hinnehmen und nicht mehr hier bleiben, sie stand also auf und ging davon. Die Haselmaus fiel sofort wieder in tiefen Schlaf und als sich Alice beim Weggehen noch einmal umdrehte, sah sie, wie der Märzhase und der Hutmacher die schlafende eingekugelte Haselmaus in die Teekanne stopften.

Sie sagte zu sich, während sie wieder durch den Wald ging: "Nie wieder komme ich hierher zurück. Das war die verrückteste Teeparty meines Lebens."

Aber sie wollte sich die Geschichte merken, denn man könnte die Geschichte von der Zeit ja auf Geburtstage anwenden und also die Uhr am Geburtstag anhalten, um dann 364 Tage im Jahr Geburstag zu feiern. "Das Fest würde dann Nicht-Geburtstag heißen!"

Ganz in diesen - wie sie fand - sehr angenehmen Gedanken versunken war sie wieder in den Wald gelaufen, wo sie an einem Baum vorbei kam, der ein Türschild trug. "Ich will mal nachschauen, was sich hinter dieser Tür verbirgt!", dachte sie neugierig und ohne lange zu überlegen trat sie ein. Da stand sie plötzlich wieder in der großen Halle mit dem Glastischchen, die sie bereits kannte. "Ah!", diesmal, beschloss sie, wollte sie aber alles in der richtigen Reihenfolge machen. Sie nahm also zuerst den goldenen Schlüssel vom Tisch, schloss damit die kleine Tür hinter dem roten Vorhang auf, holte dann ein Pilzstückchen aus ihrer rechten Kleidertasche, biss davon ab und wurde kleiner, so klein, dass sie mühelos durch die kleine Öffnung schlüpfen und durch den Gang hinter der Tür kriechen konnte, der sie endlich in den schönen Garten führte.

 

 

 

9. Alice beim königlichen Krocketspiel

Gleich hinter dem Gartentor traf sie auf drei Gärtner, die aussahen wie Figuren aus einem Kartenspiel, nur mit Köpfen und Beinen daran. Der Eine hatte sieben, der Andere fünf und der Dritte zwei Zeichen auf dem Kartenkörper.

Alle drei waren gerade damit beschäftigt, ein weißes Rosenbäumchen mit roter Farbe anzustreichen. Alice wunderte sich über ihr Tun und fragte, warum sie das denn machten. Da erzählte ihr Nummer zwei, dass sie aus Versehen ein weißes Bäumchen gepflanzt hätten. "Sie müssen wissen, die Königin wird uns köpfen, wenn sie das sieht. Deshalb malen wir die weißen Rosen rot an." Kaum hatte er aber das Wort Königin ausgesprochen, da ertönten aus der Ferne heller Fanfarenklang, mächtig donnernde Schritte und heftige Paukenschläge. Die Kartenfiguren räumten schnell alle Pinsel weg, dabei Nummer fünf aufgeregt rief: "Die Königin, die Königin. Sie kommt!"

Alice schaute um sich, woher die näherkommenden Schritte, Paukenschläge und Schellenklänge kamen, da sah sie eine ganze Parade aus Spielkarten näher kommen: Herz, Karo, Pik und Kreuzfiguren, ein ganzer Aufmarsch nach Farben und Kartenzeichen aufgestellter Kartenfiguren, mit gedrechselten Stäben und Keulen in der Hand, kam dahermarschiert. Alice wollte sich wieder zu den Spielkartengärtnern umdrehen, doch die sah sie jetzt ganz flach unten auf der Erde liegen. Schon waren auch die ersten Soldaten der königlichen Eskorte nah herbeigekommen. Hinter ihnen folgte eine lange Prozession, allen voran kamen in Zweierreihen zehn Keulenfiguren, über und über mit Diamanten verziert. Danach hüpften, ebenfalls in Zweierreihen, die königlichen Reiter und Reiterinnen heran, auch diese überall mit Herzen dekoriert. Danach folgte eine Gästeschar aus Königinnen und Königen, darunter entdeckte Alice das Weiße Kaninchen und beobachtete, wie es liebenswürdig lächelnd mit dem übrigen Hofstaat Konversation pflegte und sich nach hier- und dorthin verneigte.

Nun kam der Herzbube, er trug die Königskrone auf einem karminrot samtenen Kissen vor sich her, und als krönender Abchluss der festlichen Prozession marschierten der Herzkönig und ihre Majestät, die Herzkönigin, durch das Kartenfiguren-Spalier, das der inzwischen zum Stand gekommene Zug gebildet hatte.

Alle Augen richeten sich aber nun auf Alice, denn die Königin fragte streng: "Wer ist das?", und zu Alice gewandt: "Wie heißt du, mein Kind?" "Mit Verlaub, ich heiße Alice, Eure Majestät!", antwortete Alice in aller Höflichkeit und fuhr für sich selbst in Gedanken fort: "Na ja, das sind ja nur ein paar Spielkarten. Vor denen habe ich doch keine Angst!" "Und wer sind die da?", fragte die Königin weiter, indem sie auf die drei am Boden liegenden Spielkartengärtner zeigte. "Woher soll ich das denn wissen", antwortete Alice und war selbst überrascht über ihre mutige Entgegnung. Wütend wie eine Furie starrte die Königin Alice jetzt an und schrie: "Weg mit ihrem Kopf, weg!" "Totaler Quatsch!", setzte Alice ihr jedoch laut und deutlich entgegen. Augenblicklich verstummte die Königin.

Absolute Ruhe war eingekehrt. Vorsichtig legte der König seine Hand auf den Arm der Königin und sagte leise besänftigend zu ihr: "Meine Liebe, lass sie. Sie ist ja noch ein Kind." Da wandte sich die Königin den Spielkartengärtnern zu während sie den Herzbuben anwies, diese umzudrehen. "Steht auf!", schrie sie schrill, während sie bereits den Rosenbaum untersuchte. "Was habt ihr hier angestellt?" "Wir wollten", begann Nummer zwei, aber schon fuhr die Königin wütend fort: "Ja, das sehe ich, weg mit ihren Köpfen!" Schon setzte sich der ganze Königszug wieder in Bewegung. Alice hatte aber - als sich der Menschenzug wieder zu ordnen begann - den Augenblick des Durcheinanders genutzt, um die Gärtnerkarten schnell in einen der Blumenkästen zu stecken.

"Ihr sollt nicht geköpft werden", sagte sie und sah aus dem Augenwinkel, wie ein paar Soldaten noch nach den drei verschwundenen Gärtnern umhersuchten, sich dann aber schnell der königlichen Parade anschlossen und auf die Frage der Königin, ob sie ihren Auftrag ausgeführt hätten, sagten: "Ja, die Köpfe sind ab, Eure Hohheit." Da gellte schon wieder die Stimme der Königin durch die Luft: "Kannst du Krocket spielen?" Das galt diesmal wohl Alice, denn alle Soldaten und der ganze Hofstaat schauten stumm auf sie. "Ja", schrie Alice zurück. "Dann komm mit!", brüllte die Königin, woraufhin Alice sich auch in die Prozession einreihte und gespannt war, was als nächstes passieren würde.

"Was für ein schöner Tag!", meldete sich da ein feines Stimmchen gleich neben Alice und sie sah, dass jetzt zum ersten Mal das Weiße Kaninchen neben ihr ging und freundlich mit ihr sprach. "Tatsächlich, ein schöner Tag", erwiderte Alice höflich, "sagen Sie, wo ist eigentlich die Herzogin?" "Leise!", raunte das Kaninchen nun aufgeregt und flüsterte Alice ins Ohr: "Sie steht unter Todesstrafe!" "Aber warum bloß?", fragte Alice entsetzt. "Sieh nur, sie hat die Königin geohrfeigt…", begann das Kaninchen. Alice lachte laut heraus. "Sei doch leise!", bat das Kaninchen jetzt flehentlich, "die Königin hört dich doch! Sieh nur, es war so: die Herzogin kam zu spät, da sagte die Königin…"

"Auf die Plätze!", donnerte da die Stimme der Königin dazwischen, und alle rannten durcheinander, suchten ihre Plätze, purzelten übereinander her und saßen, erst als eine ganze Weile vergangen war, schließlich alle auf ihren Plätzen. Alice hatte noch nie in ihrem Leben eine solche Krocketspielfläche gesehen! Anstatt einer ebenen Fläche war der Boden hügelig, so dass sich die Bälle auf eine wahre Berg- und Talfahrt gefasst machen mussten. Alice bemerkte auch bald, dass die Königin für das Krocketspiel alles so arrangiert hatte, dass nur sie allein gewinnen konnte. Traf sie mit ihrem Schläger nämlich einen Ball nicht, so rannten die Tierchen, die die Bälle spielten, dahin, wo ihr Schläger war, und wenn die Bälle nicht gezielt waren, dann liefen die Spielkarten, die die Tore darstellten und sich dafür zu einem Bogen formten, dahin, woher der Ball gerollt kam, damit er unter ihrem gebogenen Körper hindurch rollte.

Die Schläger waren wie all die anderen Spielelemente ebenfalls lebendig. Es waren lebende Flamingos! Alice, die an diese Art des Spiels natürlich nicht gewöhnt war, musste lachen, wenn sie in die erstaunten Augen des Flamingos sah, als sie gerade zum Schlag ausholen wollte und beobachtete, wie sich ihr Flamingo-Schläger dann einrollte, so dass Alice die lebenden Igelbälle gar nicht treffen konnte. Auch gab es keinerlei Spielregeln. Deshalb wartete keiner der Spieler darauf, dass er an die Reihe kam, und die Spielkarten-Tore und Igel-Bälle versuchten zwar alle sich so zu bewegen, dass die Königin gewann, aber auch das wollte nicht recht gelingen. Darüber geriet die Herzkönigin in fürchterliche Rage und rief mal hier-, mal dorthin: "Kopf ab!", "Weg mit ihrem Schädel!", dabei stampfte und tobte sie gewaltig. Alice wollte dieses Spektakel keinesfalls gefallen, deshalb überlegte sie, wie sie das Spiel beenden und hier herauskommen konnte. Bald spürte sie über sich in der Luft eine seltsame Bewegung. Sie schaute deshalb aufmerksam in die Höhe, wo sie freudig verwundert eine Erscheinung wahrnahm, die im Laufe von etwa ein oder zwei Minuten nach und nach Gestalt annahm und ihr irgendwoher bereits bekannt vorkam.

"Das ist ja die Grinsekatze!", freute sich Alice, endlich bald eine Komplizin in ihrer Nähe zu haben. "Jetzt habe ich endlich jemanden, mit dem ich sprechen kann." "Kommst Du voran?", fragte die Katze, sobald ihr Mund so weit erschienen war, dass sie damit sprechen konnte. Alice wartete mit ihrer Antwort ungeduldig, bis auch die Augen der Katze zum Vorschein gekommen waren und nickte dann. "Aber es macht noch keinen Sinn, zu sprechen", sagte sie sich, "bevor die Ohren oder wenigstens eines von beiden aufgetaucht war." Dann aber war endlich der gesamte Katzenkopf hervorgetreten und Alice erzählte ihr, dass ihr das Krocketspiel nicht gefiel, weil es hier keinerlei Spielregeln gab. "Gefällt dir die Königin", wollte die Katze jetzt mit leiser Stimme wissen. "Ganz und gar nicht, sie ist so…", da wurde Alice vom König unterbrochen, der zu ihr gekommen war, den Katzenkopf neugierig ansah und fragte: "Mit wem sprichst Du?" "Das ist meine Freundin - eine Grinsekatze. Mit Verlaub, darf ich vorstellen."

"Mir gefällt es keineswegs, sie anzuschauen", antwortete der König spitz, doch dann wandte er sich der Katze trotzdem zu: "Nun gut, ihr dürft meine Hand küssen, wenn es euch beliebt." "Lieber nicht", bemerkte die Katze wählerisch. "Sei nicht so unverschämt und respektiere gefälligst die Standesregeln!", rief der König entrüstet aus. "Standesregeln?", mischte sich jetzt Alice in die Konversation ein, "darüber habe ich zwar einmal in Büchern gelesen, aber ich erinnere mich nicht mehr, wo das war." "Sie muss beseitigt werden!", befahl jetzt der König deutlich verärgert und rief der in diesem Moment vorbeigehenden Königin zu: "Meine Liebe, bist du so liebenswürdig und beseitigst diese Katze?" "Weg mit ihrem Kopf!", schallte sogleich die Antwort der Königin herüber, die nicht einmal hergeschaut hatte. "Den Scharfrichter wähle ich persönlich aus", fügte der König eifrig hinzu und lief davon.

Alice meinte, nun ebenfalls wieder aufs Spielfeld gehen zu müssen, doch dann sah sie, wie dort alle Spieler kreuz und quer umherliefen, die Spielkarten durcheinandergebogen waren sowie zwei Igel heftig miteinander kämpften und ihr Flamingo gerade im hinteren Teil des Spielfeldes Anstalten machte, davonzulaufen. Dafür übte er sich soeben in Flugversuchen, um sich auf einen der Bäume zu flüchten. Alice fing ihren Flamingo schnell ein und behielt ihn von nun an unter dem Arm, damit er ihr nicht wieder davonlaufen konnte. Als sie zur Grinsekatze zurückkehrte staunte sie nicht schlecht, denn um diese herum war mittlerweile eine große Versammlung entstanden. Der größte Teil der Versammelten war still und schaute betreten. Dagegen waren der König, die Königin und der Scharfrichter in einen heftigen Streit verwickelt.

Sie stritten darüber, ob ein Katzenkopf geköpft werden könne, der unabhängig von einem Katzenkörper exisitierte. Alice forderte die drei auf, ihre Argumente doch statt gleichzeitig und durcheinander besser hintereinander und klar zu formulieren. "Außerdem gehört die Katze der Herzogin. Sie sollten also besser sie fragen, was mit ihr geschehen soll", setzte sie außerdem noch hinzu. "Sie sitzt im Gefängnis, hol sie her!", befahl die Königin daraufhin dem Scharfrichter, der sogleich wie ein Pfeil davonschoss. Schlau begann der Katzenkopf in diesem Moment langsam zu verschwinden, so dass er bei der Rückkehr des Henkers mit der Herzogin bereits gänzlich verschwunden war. Wild rannten da jetzt der König und der Scharfrichter auf der Suche nach der Katze das Spielfeld auf und ab. Alle anderen aber wandten sich einstweilen wieder dem Krocketspiel zu.

 

 

 

10. Die Geschichte von der Falschen Suppenschildkröte

"Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue, dich wiederzusehen", sagte die Herzogin zu Alice. Sie war jetzt sehr freundlich zu Alice und auch nicht mehr so zornig wie sie zuvor, bei sich zuhause, mit der Köchin und dem kleinen Ferkel gewesen war. Die Herzogin hakte sich bei Alice ein und ging ganz nah an ihrer Seite, so nah, dass sie ihr Kinn auf Alices Schulter ablegen konnte.

Alice gefiel das nicht besonders, weil sie die Herzogin hässlich und ihr Kinn unangenehm scharfkantig fand, und weil sie außerdem auf dem anderen Arm auch noch den Flamingo trug, der ihr ja zuvor als Krocketschläger gedient hatte. Doch die Herzogin erzählte einfach weiter.

Allerdings wurde ihre Stimme nach und nach immer leiser und Alice erkannte, dass es wohl wegen der Königin sein musste, die plötzlich wie aus dem Nichts kommend vor Ihnen stand. "Einen wunderschönen guten Tag, gnädige Königin", sagte die Herzogin mit leisem, zitternden Stimmchen. "Ich warne dich!", kreischte die Königin und stampfte dabei mit dem Fuß auf den Boden, "such es dir aus: entweder verschwindest du auf der Stelle oder dein Kopf wird verschwinden!", da war die Herzogin ohne auch noch ein Fünkchen Zeit zu verschwenden oder auch noch den geringsten Laut von sich zu geben im Nu auf und davon.

Dann wandte sich die Königin Alice zu und sagte: "Hast du schon die Falsche Suppenschildkröte gesehen?" "Nein, ich weiß nicht einmal, was eine Falsche Suppenschildkröte ist", antwortete Alice. "Nun, dann komm, sie soll dir ihre Geschichte erzählen", bestimmte die Königin. Also verließen Alice und sie das Krocketfeld und kamen bald zu einem riesigen Vogel Greif, der schlafend in der Sonne lag. "Steh auf, Faulpelz!", befahl die Königin "…und bringe diese junge Dame zu der Falschen Suppenschildkröte, damit sie ihr ihre Geschichte erzählt. Ich muss einige Hinrichtungen beaufsichtigen, die ich beim Krocketspielen angeordnet habe."

Die Königin ging daraufhin wieder davon und ließ Alice mit dem Greif allein. Zuerst war Alice etwas unsicher, was denn nun besser war, hier allein bei dem Greif oder in Gesellschaft der wilden Königin zu sein. Sie entschied abzuwarten. Der Greif reckte und streckte sich, dabei kicherte er leise, und als Alice ihn fragte, warum er denn kicherte, erklärte er ihr, dass in diesem Königreich niemals jemand geköpft würde und sich die Königin das nur einbildete. Und tatsächlich erinnerte sich Alice, dass sie beim Weggehen vom Krocketfeld die leise Stimme des Königs vernommen hatte, der die Soldaten anwies, alle Strafen zu erlassen. "Komm mit!", sagte der Greif und Alice ging mit ihm ein kleines Stück, bis sie zu einem Felsvorsprung kamen auf dem ganz alleine und herzzerreissend schluchzend eine etwas merkwürdig aussehende Schildkröte saß.

Sie hatte zwar einen Schildkrötenpanzer, aber auf dem Schildkrötenkörper saß eine Art Schweinsgesicht. Auch hatte sie Armflossen wie eine Schildkröte, aber Schweinehaxen anstatt Fußflossen. "Hier ist ein junges Mädchen, das deine Geschichte hören möchte", sagte der Greif zu der Falschen Suppenschildkröte. "Gut, ich werde sie ihr erzählen", seufzte diese tief. "Aber setzt euch und sagt kein Wort bis ich zu Ende erzählt habe, ja!?" Der Greif und Alice setzten sich neben sie auf den Felsvorsprung und warteten. Nach einigen Minuten Schweigen begann sie schließlich: "Es war einmal vor langer Zeit, da war ich echt. Ja, ich war eine echte Schildkröte.

Als wir klein waren, gingen wir im Meer zur Schule. Unser Lehrer war eine uralte Schildkröte mit einem schweren Panzer, wir sagten immer Sprechpanzer zu ihm. Wir erhielten bei ihm den allerbesten Unterricht. Wir gingen sogar jeden Tag zur Schule!" "Darauf brauchst du dir aber nichts einzubilden, das machen wir auch", sagte Alice. "Auch mit Extraunterricht in Waschen?", fragte die Falsche Suppenschildkröte neugierig. "Das ist doch nichts Besonderes", wandte Alice ein, "wir haben auch Extraunterricht, nämlich in Französisch und Musik. Und Waschen hat dir sicherlich nicht besonders gefallen, denn du warst ja schon im Meer." "Doch, das hätte mir gefallen.

Aber leider durfte ich diesen Unterricht nicht besuchen", antwortete die Falsche Suppenschildkröte, "weil ich mir das nicht leisten konnte. Ich durfte nur zu den Pflichtfächern." "Welche Fächer waren das?", fragte Alice. "Zu Anfang natürlich Lösen und Schreiten und dann die verschiedenen Methoden der Arithmetik, Add-Tieren, Suppen-Tieren, Multi-Plissieren und Divi-Tieren." "Von Divi-Tieren habe ich noch nie etwas gehört", wagte Alice die Erzählung zu unterbrechen. "Was?", rief da der Greif entrüstet aus und schlug beide Vordertatzen über seinem Kopf zusammen. "Du hast noch nie etwas von Divi-Tieren gehört? Ich nehme aber an, du weißt doch bestimmt, was Harmo-Tieren ist!", sagte der Greif entrüstet. "Ja", antwortete Alice zögernd. "Das ist doch, wenn man alles aufeinander abstimmt und schöner gestaltet." "Na also! Wenn du also noch nichts von Divi-Tieren gehört hast, bist du ein ziemlicher Einfaltspinsel!", fuhr der Greif fort. Alice beschloss, jetzt dem Greif nicht weiter zu folgen und erst einmal ruhig die Falsche Suppenschildkröte weiter anzuhören. Deshalb fragte sie diese:

"Welche Fächer hattet ihr denn sonst noch?" Diese zählte jetzt mit ihren Flossen alle weiteren Fächer auf: "Gerichte, alte und neue Gerichte, dann Erdbeerkunde, Meerography, und einmal die Woche hatten wir Unterricht im Malersaal - der Lehrer war ein Zitteraal -: Er unterrichtete Teich-nen, Aalen und Dehnen in Öl." "Was habt ihr da gemacht?", fragte Alice. "Das kann ich dir nicht zeigen, weil ich zu steif bin, und der Greif hat das nicht gelernt", sagte die Falsche Suppenschildkröte. "Ich hatte keine Zeit. Ich war bei dem alten Meister, einer alten Krabbe. Der unterrichtete Latein und Griechisch", sagte der Greif.

"Und wieviele Stunden Unterricht hattet ihr pro Tag?", fragte Alice. "Zehn Stunden am ersten Tag", zählte die Falsche Suppenschildkröte auf, "dann wurden es von Tag zu Tag weniger: neun am zweiten und so weiter." "Deshalb nennt man es auch Unter-richt, weil die Stunden immer unter dem Richtwert des Vortags lagen", erklärte der Greif jetzt noch genauer. "Das ist ja eine interessante Planung", erwiderte Alice, "dann hattet ihr ja am elften Tag schon frei! Und was habt ihr dann am zwölften Tag gemacht?" "Genug über Schule und Unterricht geredet", unterbrach der Greif die Unterhaltung. Stattdessen solle die Falsche Suppenschildkröte Alice lieber noch andere Dinge aus ihrem Schulalltag erzählen: "Jetzt erzähl ihr etwas über unsere Spiele!"

 

 

 

11. Vogel Greif und die Falsche Suppenschildkröte erzählen vom Hummertanz

Die Schildkröte hielt ihre Flosse über die Augen, schaute Alice seufzend an und sagte: "Du kennst Dich sicherlich nicht im Meer aus und weißt daher auch nicht über das Leben der Hummer Bescheid. Deshalb kannst Du auch nicht wissen, wie wunderschön ein Hummertanz ist." "Nein, tatsächlich kenne ich mich nicht damit aus. Was ist das für ein Tanz?", wollte Alice wissen.

Der Greif, der gerade sein Gefieder geputzt hatte, begann jetzt geschäftig zu erzählen: "Zuerst stellen sich alle Tänzer in einer Reihe entlang einer Sandbank auf." "In zwei Reihen!", unterbrach ihn die Schildkröte und fuhr fort: "Seehunde, Schildkröten, Lachse und so weiter. Wenn dann alle Quallen aus dem Weg geräumt sind, gehen die Tänzer zwei Schritte vor. Jeder hat einen Hummer als Tanzpartner. Also, zwei Schritte vor, dann den Hummer-Tanzpartner wechseln, und in gleicher Weise zurück. Dann, weißt du, dann wirfst du…" "Den Hummer!", rief der Greif dazwischen. "Ja, den Hummer", fuhr die Schildkröte fort, "…mit Schwung aus dem Meer in die Luft, so hoch du nur kannst, du schwimmst dann im Meer hinterher, machst einen Purzelbaum unter Wasser, fängst anschließend den Hummer wieder auf und schwimmst mit ihm an Land. Das ist die erste Tanzformation des Hummertanzes."

Bei der Beschreibung waren die Falsche Suppenschildkröte und der Greif wild herumgesprungen. Jetzt hatten sie sich beide wieder hingesetzt und schauten Alice erwartungsvoll an. "Möchtest du den Tanz lernen?", fragte die Falsche Suppenschlidkröte. "Ja, sehr gerne!", sagte Alice. "Dann lass uns die erste Figur jetzt genau vormachen", forderte die Falsche Suppenschildkröte den Greif auf. "Wir können sie ohne Hummer machen, nicht wahr? Und wer soll singen?" "Sing du, ich habe den Text vergessen!", antwortete der Greif. Dann machten beide Tiere den Tanz vor und tanzten um Alice herum, und die Falsche Suppenschildkröte sang getragen und mit tiefer Stimme:

"Kannst du ein wenig schneller schwimmen?",
fragt der Schellfisch schnell die Schneck,
"Kommt ein Tümmler, gleich dahinten, fängt meinen Schwanz, das ist sein Zweck!
Schau! Die Schildkröten und Hummer flugs vorausgegleitet sind,
Warten schon am Kieselufer - tanzt du mit mir wie der Wind?
Willst du, magst du, willst du, magst du, willst du tanzen wie der Wind?
Willst du, magst du, willst du, magst du, willst du tanzen wie der Wind?

Stell dir vor, mal dir das aus, wie entzückend es wird sein,
Wenn sie in die Luft uns werfen in das weite Meer hinein!"
Doch die Schnecke sagt: "Zu weit!", schaut den Schellfisch skeptisch an,
"Danke gnädigst, nett gemeint, will nicht tanzen nach diesem Plan."
Möcht nicht, kann nicht, möcht nicht, kann nicht, möcht nicht tanzen nach diesem Plan.
Möcht nicht, kann nicht, möcht nicht, kann nicht, möcht nicht tanzen nach diesem Plan."

"Was macht's schon aus wie weit wir fliegen?" antwortet ihr shupp'ger Freund,
"Ist doch noch ein anderes Ufer auf der and'ren Seit.
Je weiter weg wir sind von hier, desto näher sind wir dort.
Drum mach nicht schlapp, geliebte Schneck, und tanze mit mir fort!
Willst du, magst du, willst du, magst du, willst du tanzen wie der Wind?
Willst du, magst du, willst du, magst du, willst du tanzen wie der Wind?"

Schließlich waren beide ganz außer Atem, setzten sich wieder hin und forderten Alice auf, auch von ihren Erlebnissen und Abenteuern zu erzählen.

"Komm, jetzt erzähle du uns von deinen Abenteuern!", sagte der Greif und Alice begann also damit, ihre Geschichte zu erzählen. Doch sie musste zuerst sagen, sie könne nur die Geschichten von heute erzählen und nicht die von gestern oder von davor, denn sie sei ja seit dem heutigen Tag eine andere Person. "Was meinst Du mit anderer Person? Erkläre uns das!", wollte die Schildkröte wissen. "Nein, zuerst die Abenteuer!", rief der Greif. Alice begann also von Anfang an alle Abenteuer zu erzählen, die sie erlebt hatte, seit sie dem Weißen Kaninchen begegnet war, und als sie bei der Geschichte mit der Raupe angekommen war, erzählte sie, dass ihr die Worte beim Gedichtaufsagen alle falsch aus dem Mund gekommen waren. Da unterbrach die Schildkröte ihre Erzählung mit einem tiefen Atemzug. "Das ist interessant. Ich würde gerne hören, wie sie etwas aufsagt. Sag ihr, sie soll etwas vortragen!", sagte sie zu dem Greif.

"Steh auf und sag >Hier spricht die Schnecke< auf!", forderte der Greif also Alice auf. "Wie einen hier die Tiere herumkommandieren und Gedichte aufsagen lassen!", dachte Alice wieder einmal, "ich komme mir vor wie in der Schule!" Doch sie stand trotzdem auf und begann mit dem Gedichtvortrag. Ihr Kopf war voll mit dem zuvor gehörten Hummertanzlied, so dass sie sich kaum konzentrieren konnte und die Wörter wieder völlig verquer aus ihrem Mund sprudelten:
"Hier spricht der Hummer", hört' ich ihn sagen,
"Muss zuckern mein Haar. Du hast mich zu braun gebraten!"
Und wie eine Ente ihr Gefieder, putzt er mit der Nase
Sich Gürtel und Knöpfe und stellt die Schwanzzeh ins Grase.

"Kannst Du mir das erklären?", fragte die Falsche Suppenschildkröte. "Nein, sie kann das nicht erklären!", antwortete der Greif und wandte sich dann Alice zu: "Fahr fort mit der nächsten Strophe! Sie beginnt mit >Ich ging durch seinen Garten

Alice fuhr also fort:
Ich ging durch seinen Garten, will gerade verweilen,
Da seh ich wie sich Eule und Panther einen Kuchen teilen.

Alice brach ihren Vortrag gleich wieder ab, seufzte tief und nach einigen Sekunden Stille fragte der Greif: "Sollen wir dir noch die zweite Figur vom Hummertanz zeigen, oder willst du lieber, dass die Schildkröte dir ein Lied vorsingt?" "Oh ja, ein Lied! Bitte, wenn die Schildkröte so freundlich wäre!", sagte Alice so eifrig, dass der Greif in beleidigtem Ton antwortete: "Nun ja, gegen Geschmack ist kein Kraut gewachsen", und er forderte die Schildkröte auf, sie solle das Lied von der Schildkrötensuppe singen. Während die Schildkröte ihr trauriges Lied sang, tönte eine laute Stimme zu ihnen: "Der Gerichtsprozess beginnt!"

"Komm, wir gehen!", sagte der Greif jetzt eilig zu Alice und zog sie an der Hand mit sich fort, ohne noch das Ende des Liedvortrags der Schildkröte abzuwarten. "Was ist das für ein Gerichtsprozess?", fragte Alice atemlos. "Los, komm!", antwortete der Greif kurz angebunden und rannte noch schneller mit ihr fort, während der Wind ihnen die traurigen Liedverse der Schildkröte hinterher wehte.

 

 

 

12. Alices Abenteuer im königlichen Gerichtssaal oder ist Herzbube der Kuchendieb?

Als Alice und der Greif ankamen, saßen der König und die Königin bereits auf ihrem Thron und im Gerichtssaal war eine große Menschenmenge versammelt. Alle waren anwesend: verschiedene Vogel- und Kleintierarten, darunter einige Meerschweinchen, sowie das gesamte Kartenspiel. Direkt vor dem Richterstuhl und dem Königspaar stand der in Ketten gelegte Herzbube, rechts und links von ihm zwei Wachsoldaten. Auch das Weiße Kaninchen war da, mit einer Trompete in der einen und einer Pergamentrolle in der anderen Hand.

In der Mitte des Saales, direkt vor dem Richterstuhl, war ein langer Tisch aufgebaut, auf dem ein Tablett mit kleinen Kuchen stand. Das Gebäck sah so appetitlich aus, dass Alice hoffte, der Prozess wäre schnell zu Ende und es würden bald die Erfrischungen gereicht.

Aber das würde noch eine Weile dauern, also verbrachte sie ihre Zeit damit, sich umzuschauen.

"Das ist bestimmt der Richter, ich erkenne ihn an seiner langen weißen Richterperücke", sagte sie bei sich. Der Richter war im Übrigen der König selbst, der sich auf die Perücke noch seine Krone gesetzt hatte und damit ziemlich unbequem aussah. "Aha!, hier auf der langen Bank an der Seite saßen also die Geschworenen", stellte Alice weiter fest. Es waren alles kleine Tiere und verschiedene Vogelarten. Alice wunderte sich, was die zwölf Geschworenen schon schrieben, bevor der Prozess überhaupt begonnen hatte. Deshalb fragte sie flüsternd den Greif: "Was tun sie denn?" "Sie schreiben sich ihre Namen auf, weil sie Angst haben, dass sie die bis zum Ende des Prozesses wieder vergessen haben", antwortete der Greif leise. "Blödsinn", platzte da Alice ganz laut heraus. Doch sie war sofort wieder still, denn schon hatten sich alle nach ihr umgedreht, um zu sehen, wer es gewagt hatte, im Gerichtssaal ohne Aufforderung zu sprechen, und das Weiße Kaninchen rief streng: "Ruhe im Gerichtssaal!" "Verlies die Anklage!", forderte der König jetzt das Weiße Kaninchen auf. Das blies zuerst drei Mal in die Trompete und rollte anschließend gewichtig die Pergamentrolle auf:

"Herzkönigin buk Törtchen
An einem Sommertag,
Herzbube stahl sie alle,
Weil er sie so sehr mag!"

"Jetzt fällt das Urteil!", sagte der König zu den Geschworenen. "Nein! Noch nicht, noch nicht! Zuerst kommen noch andere Dinge", erinnerte ihn das Weiße Kaninchen. "Gut, ruf den ersten Zeugen!", forderte ihn also der König stattdessen auf, und das Weiße Kaninchen blies wieder drei Trompetenstöße. Danach rief es: "Der erste Zeuge in den Zeugenstand!" Der erste Zeuge war der Hutmacher.

Er kam mit seinem riesengroßen Zylinderhut auf dem Kopf, einer Tasse Tee in der einen Hand und einem Butterbrot in der anderen in den Gerichtssaal gestürzt. Hinter ihm folgten Arm in Arm die zierliche Schlafmaus und der Märzhase. Die Schlafmaus hatte eine ganz spitze Schnauze und große Augen und Ohren. Der Hutmacher erklärte seinen sonderbaren Auftritt damit, dass er noch beim Teetrinken gewesen war, als er gerufen wurde. "Mach deine Aussage!", forderte ihn der König kurz angebunden auf. "Und sei nicht so nervös oder ich lasse dich auf der Stelle hinrichten!" Tatsächlich konnte der Hutmacher vor Aufregung nicht still stehen, zappelte von einem Bein auf das andere, ja biss sogar in seine Teetasse anstatt in sein Butterbrot und linste stets zur Königin hinüber. Noch schlimmer aber wurde seine Aufregung, als ihn die Königin, nun aufmerksam geworden, genauer ins Visier nahm. Da wurde er sogar blass vor Angst und begann, am ganzen Leib zu zittern.

Alice schaute diesem eigenartigen Auftritt interessiert zu, dabei hatte sie selbst zunehmend ein sehr komisches Gefühl. Sie merkte, dass sie wieder zu wachsen begann. Die neben ihr sitzende Haselmaus beschwerte sich schon, dass es ihr zu eng würde und sie kaum mehr atmen könne, wechselte dann sogar ihren Sitzplatz, doch Alice wuchs und wuchs und konnte nichts dagegen unternehmen. Die Königin hatte den Hutmacher unterdessen pausenlos beobachtet. Gerade als die Haselmaus soeben den Platz wechselte, sagte die Königin zu einem der Gerichtsdiener: "Bring mir doch mal die Namensliste der Sänger vom letzten Hofkonzert!"

Da bebte und schüttelte es den Hutmacher dermaßen, dass seine Füße sogar aus seinen Schuhen herausschlotterten und er nun noch viel weniger imstande war, auf die erneute Frage des königlichen Richters zu antworten. Dann begann er stotternd: "Ich hatte gerade meinen Tee ausgetrunken", dabei warf er schnell noch einen ängstlichen Blick auf die Königin, die mittlerweile bereits die Namensliste der Sänger durchschaute. Dann warf er sich auf die Knie und sagte: "Ich kann mich nicht mehr erinnern!".

Die Meerschweinchen grunzten Beifallsrufe und der gesamte Gerichtssaal wurde unruhig. Sofort schritten die Gerichtsdiener ein, steckten die Meerschweinchen in Säcke, banden sie über dem Maul der Tiere mit Schnüren zusammen und setzten sich anschließend darauf, so dass sofort wieder Ruhe einkehrte. "Du kannst gehen, du bist ein sehr schlechter Redner", sagte der König zum Hutmacher. Das ließ sich der Hutmacher natürlich nicht zweimal sagen. Er lief sogleich aus dem Saal und war auch schon auf und davon.

Nur seine Schuhe blieben da zurück, wo er im Gerichtssaal gestanden hatte. "Haut ihm seinen Kopf ab!", rief die Königin ihren draußen postierten Gerichtsdienern zu, doch der Hutmacher war schon außerhalb der Sichweite auf und davon. "Rufe den nächsten Zeugen!", forderte der König wieder das Kaninchen auf. Jetzt kam die Köchin der Herzogin herein mit ihrer Pfefferdose in der Hand. Sogleich begannen einige am Eingang sitzende Besucher laut zu niesen. "Mach Deine Aussage!", befahl der König der Köchin. "Mag nicht!", sagte die Köchin. Der König schaute ängstlich das Weiße Kaninchen an, das ihm leise zuflüsterte: "Diese Zeugin müssen sie ins Kreuzverhör nehmen." "Nun gut, was sein muss, muss sein", sagte der König. Er verschränkte umständlich seine Arme auf der Brust und schaute die Köchin dann lange und finster an. Schließlich fragte er sie mit tiefernster Stimme: "Aus welchen Zutaten wird Kuchen zubereitet?" "Hauptsächlich aus Pfeffer", antwortete die Köchin. "Karamell", sagte die schläfrige Stimme der Maus hinter ihr. "Packt die Haselmaus am Kragen!", kreischte die Königin, "und werft sie aus dem Gerichtssaal! Stecht sie! Kopf ab! Weg mit ihren Schurrbarthaaren, hinaus mit dem Störenfried!" Eine Weile lang war jetzt der gesamte Gerichtssaal in heller Aufregung, um die Schlafmaus aus dem Saal zu befördern. Als sich endlich alle wieder beruhigt hatten, war mittlerweile die Köchin verschwunden. "Nun gut, das macht nichts, ruf den nächsten Zeugen!", sagte der König großzügig zum Kaninchen.

Alice beobachtete das Weiße Kaninchen, wie es mit seiner Zeugenliste herumhantierte und war neugierig, wer als nächstes in den Zeugenstand kommen würde, denn sie dachte bei sich, dass das Gericht bisher ja mit der Aufklärung des Falles überhaupt nicht weitergekommen war. Da vernahm sie das schrill klingende Stimmchen des Weißen Kaninchens: "Alice, bitte in den Zeugenstand!"

 

 

 

13. Alice deckt die Karten auf

"Hier bin ich!", rief Alice und war bereits aufgestanden. Sie hatte in der Aufregung vergessen, wie groß sie in den letzten Minuten gewachsen war. Leider hatte sie jetzt nämlich mit ihrem Rocksaum die ganze Geschworenenbank umgeworfen, so dass alle Tiere auf die Versammlung heruntergepurzelt waren und kreuz und quer am Boden lagen.

Sie erinnerte sich an ihre Goldfische, die sie vergangene Woche zuhause aus Versehen aus dem Goldfischglas geworfen hatte, als es umgefallen war. "Oh, das tut mir leid!", entschuldigte sie sich bestürzt und half allen, wieder aufzustehen. Sie hatte das Gefühl, dass sie ihnen schnell helfen müsste, damit sie nicht starben.

"Die Verhandlung wird unterbrochen, bis alle, ich sagte, alle Geschworenen, wieder auf ihren Plätzen sind", sagte der König in strengem Ton und mit einem bösen Seitenblick auf Alice. Endlich hatten alle ihre Plätze wieder eingenommen, ihre Täfelchen und ihre Kreidestückchen wieder in der Hand, und der Prozess konnte fortgesetzt werden. Die Geschworenen waren bereits eifrig damit beschäftigt, den genauen Unfallhergang zu protokollieren, da begann der König mit der Befragung: "Was weißt Du über diese Sache mit dem Kuchen?", fragte der König Alice. "Nichts, gar nichts", erwiderte Alice.

"Das ist sehr wichtig!", sagte da der König zu den Geschworenen. Sie schrieben es eifrig auf ihre Täfelchen, da unterbrach das Weiße Kaninchen respektvoll und sagte: "Unwichtig, meint Eure Majestät natürlich!" "Ja, unwichtig!", berichtigte der König hastig und fuhr leise fort, vor sich hinzusagen: "Wichtig, unwichtig, wichtig, unwichtig!?", als ob er ausprobieren wollte, welches Wort besser klang. Jeder Geschworene notierte jetzt etwas anderes, entsprechend dem, was er gerade hörte.

Dann rief der König: "Ruhe im Saal! Verordnung Nummer zweiundvierzig: 'Jeder, der größer ist als einen Kilometer, muss den Gerichtssaal verlassen'." Alle Augen richteten sich auf Alice. "Ich bin doch keinen Kilometer groß", sagte Alice. "Doch!", sagte der König. "Sogar mehr als zwei Kilometer!", fügte jetzt die Königin hinzu.

"Nun, ich mag jedenfalls nicht weggehen", sagte Alice, "abgesehen davon ist das keine gültige Vorschrift, denn sie wurde eben erst erfunden." "Es ist im Gegenteil die älteste Verordnung im ganzen Buch", verteidigte der König seine Forderung. "Na, dann müsste es ja die Verordnung Nummer eins sein", bestand Alice auf ihrer Meinung.

Der König wurde kreideblass und klappte eilig sein Notizbuch zu. "Wie lautet euer Urteil?", fragte er dann die Geschworenen. Da sprang das Weiße Kaninchen auf und bemerkte hastig: "Es wurde neues Beweismaterial gefunden. Einer der Geschworenen hat einen Brief bei sich, der das Geheimnis zu lüften verspricht!" "Nun gut, was enthält er?" fragte die Königin. "Ich habe ihn noch nicht geöffnet und es steht nichts auf dem Briefumschlag. Doch ist es offenbar ein Brief, den der Angeklagte an jemanden geschrieben hat." "An wen ist er denn adressiert?", wollte einer der Geschworenen wissen. "Er ist an niemanden adressiert…", antwortete das Kaninchen, während es den Brief bereits auseinanderfaltete, "…und auch nicht in der Handschrift des Angeklagten verfasst. Ach!", sagte es da, als es den Umschlag geöffnet hatte: "Es ist auch nicht einmal ein Brief, sondern nur eine Ansammlung von Versen." "Der Angeklagte wird die Handschrift eines anderen imitiert haben. Lies vor!", forderte der König. Das Weiße Kaninchen setzte seine Brille auf und wollte vorlesen, da meldete sich der Herzbube zu Wort: "Ihre Majestät, mit Verlaub! Ich habe diesen Brief nicht verfasst und niemand kann beweisen, dass ich es getan habe, weil er nicht unterschrieben ist!" "Du hast den Brief nicht unterschrieben? Dann ist es umso schlimmer!", sagte der König nur. "Hättest Du also keinen Unfug im Sinn gehabt, hättest Du ihn unterschrieben, wie jeder andere ehrliche Mann!" Alle Anwesenden im Gerichtsaal klatschten Beifall, denn das war der erste lange Satz, den der König an diesem Tag gesagt hatte. "Das beweist erst recht seine Schuld!", meldete sich die Königin wieder zu Wort. "Nein, das stimmt nicht. So geht das nicht! Das beweist überhaupt nichts. Ihr wisst ja noch nicht einmal was drin steht!", protestierte Alice. "Lies ihn vor!", forderte jetzt der König das weiße Kaninchen auf. Das schob seine Brille höher auf die Nase und fragte den König: "Mit Verlaub, wo soll ich anfangen zu lesen, Eure Majestät?" "Beginne am Anfang", antwortete der König ernst, und lies bis zum Ende. Dort hörst Du auf."

Dies waren die Verse, die das Weiße Kaninchen verlas:
Sie sagten mir, du warst bei ihr
Und erwähntest Folgendes bei ihm:
Sie gab ein freundlich Wesen mir,
Doch ich kann nicht schwimmen.

Er gab sein Wort, ich sei nicht fort,
(Wir wissen, das trifft zu!)
Falls sie die Sache weitertreibt,
Was machst denn dann du?

Ich gab ihr ein, sie gaben ihm zwei Stück,
Du gabst uns drei und mehr;
Sie alle kamen zu dir zurück
Sind dein jetzt wieder.

Wenn ich, wenn sie, also verwickelt sei,
Verwickelt sei in die Affär',
Bittet er dich, lass sie frei
Wie uns, nichts weiter sonst, nichts mehr.

Mein Eindruck war, dass du damals,
(Als sie den Anfall hatte),
Ein Hindernis gebildet hast
Für ihn und uns und es.

Erzähl's ihm nicht, sie mocht sie sehr!
Deshalb auf ewig sei versprochen,
Ein Geheimnis bleibt's,
Zwischen Dir und mir, das nie gebrochen

"Das ist das wichtigste Beweisstück, das uns bisher vorgelegen hat. Das Gericht soll nun sein Urteil fällen", sagte der König zufrieden, indem er sich die Hände rieb. "Wie lautet also euer Urteil?", fragte er die Geschworenen. "Wenn irgendjemand der hier Anwesenden erklären kann, was in diesen Versen steht, dann heiße ich Egon", mischte sich jetzt Alice ein, die mittlerweile so gross gewachsen war, das sie überhaupt kein bisschen Angst mehr hatte, "es steckt kein Deut Sinn in dem Text, ja, es ist sogar kompletter Unsinn!" Die Geschworenen fuhren unterdessen fort, alles aufzuschreiben, was gesagt wurde, und keiner machte einen weiteren Kommentar oder versuchte, den Text zu erklären.

"Also", sagte der König, während er die Verse studierte und gleichzeitig vor sich hinmurmelte: ">Ich gab ihr eins, sie gaben ihm zweiSie kamen alle von ihm zu dir zurück

"Jetzt aber Schluss mit dem Gefasel! Wo gibt es denn so etwas! Zuerst muss natürlich das Urteil kommen!", unterbrach Alice jetzt mit lauter, sicherer Stimme. "Halt die Klappe!", erwiderte die Königin, die über und über purpurrot angelaufen war. "Das werde ich nicht tun!", entgegnete ihr Alice fest. Außer sich vor Wut, schrie da die Königin: "Ab mit ihrem Kopf!"

"Ach, wer schert sich denn schon um Euch. Ihr seid doch nur ein Haufen Karten!", setzte ihr Alice diesmal noch entschlossener entgegen, denn mittlerweile war sie zu ihrer vollen Grösse emporgewachsen und hatte kein bisschen mehr Angst. "Raus, hinweg mit ihr!", schrie die Königin mit sich überschlagender Stimme. Aber niemand bewegte sich im Saal. Dann ging plötzlich ein Luftzug durch den Raum und im gleichen Moment erhob sich das gesamte Kartenheer, es flog in die Luft, sammelte sich dort und stürzte sich dann auf Alice. Alice versuchte, die Karten wegzuscheuchen, schlug nach ihnen, rannte aus dem Gerichtssal auf und davon, purzelte, schwamm, flog und stieß dann einen Schrei aus, halb aus Angst, halb aus Wut, weil sie die Karten nicht los wurde und eine schon ihre Wange streifte.

 

 

 

14. Alice wieder auf der Wiese bei ihrer Schwester Celia

Alice spürte eine Hand in ihrem Gesicht. Es war die Hand ihrer älteren Schwester, die sie weckte und ihr gerade ein paar vom Baum gefallene Blätter aus dem Gesicht strich. "Wach auf!", sagte sie zu Alice. "Wie lange du geschlafen hast!" Alice fand sich im Schoß ihrer Schwester Celia auf der Wiese liegend wieder.

Sie hörte das Gras im Wind wiegen und sah, wie sich das Wasser im Fluss kräuselte und das Schilfrohr am Ufer sich hin- und herbog. In der Ferne hörte sie Schafschellen klingen und das Muhen von Kühen, das von einem nahe gelegenen Bauernhof herüberdrang.

"Ich hatte einen sonderbaren Traum!", sagte Alice und erzählte ihrer Schwester von ihren Abenteuern, die ihr eben gehört habt. War das alles ein Traum gewesen? Oder hatte sie diese Abenteuer wirklich erlebt? Alice grinste wie ein Honigkuchenpferd.

Jedenfalls hat keiner bisher das Wunderland auf unserem Globus entdeckt, und doch waren nach Alice noch viele Kinder und Erwachsene dort und haben danach von zauberhaften Erlebnissen berichtet.