Aktäon

  • Autor: Schwab, Gustav

Aktäon war ein Göttersohn. Er wurde von dem Zentauren Chiron [1] zu einem erfahrenen Jäger erzogen. Einst jagte Aktäon mit seinen Gefährten in den Bergwäldern. Die Mittagssonne brannte heiß hernieder und die kühlen Schatten der Bäume waren nur kurz. Da rief der Jüngling seine Jagdgenossen zusammen und sprach: "Der heutige Tag hat genug Beute für uns alle gebracht, darum lasst uns der Jagd ein Ende machen! Wenn morgen die Sonne am Himmel steht, werden wir unser fröhliches Geschäft erneuern." Darauf entließ Aktäon die Anderen und ging mit seinen Hunden tief in den Wald hinein. Dort wollte er einen kühlen, schattigen Ort suchen, um sich im Schlafe auszuruhen.

Nicht sehr weit entfernt war ein Tal mit hoch aufragenden Zypressen. Dieser Ort hieß Gargaphia und war der Artemis [2] geheiligt. In einem Winkel des Tales befand sich eine versteckte Grotte. Kunstreich schien der Fels wie einem Bogen gewölbt, doch es war das Werk der Natur. Dicht dabei murmelte eine kleine Quelle, die kristallklares Wasser in die Grotte entlies und damit einen flachen See speiste. In diesem Wasser pflegte Artemis ihre müden Glieder nach der Jagd zu reinigen.

Auch jetzt war die Göttin wieder in die Grotte getreten, begleitet von ihren Nymphen [3]. Die Göttin reichte ihrer Waffenträgerin den Jagdspeer sowie Köcher und Bogen. Dann gab sie einer anderen Nymphe das Gewand und die Schuhe, worauf die Dienerinnen das kühlende Wasser über ihre Herrin gossen.

So erfreute sich die Göttin an ihrem gewohnten Bade, als Aktäon ahnungslos in die Grotte kam. Die Neugier ließ ihn eintreten, schien es ihm doch der geeignete Ort, um auszuruhen. Die Nymphen erblickten als Erste den Fremdling. Mit lauten Geschrei drängten sie sich an ihre Gebieterin, um den entblößten Leib zu verbergen. Doch die Göttin überragte alle um Haupteslänge. Voll Zorn stand Artemis wie versteinert da, die Augen starr auf den Eindringling gerichtet. Dieser aber blieb ganz regungslos, geblendet von der göttlichen Schönheit.

Nun beugte sich die Göttin plötzlich zur Seite, schöpfte ein wenig Wasser mit der Hand und spritzte es dem Jüngling über das Haar. Dann sprach sie mit drohender Stimme: "Was du gesehen hast, das verkünde den Menschen, wenn du es vermagst!"

Kaum waren diese Worte gesprochen, da spürte Aktäon große Angst in seinem Herzen. Mit schnellen Schritten stürzte er davon. Der Unglückliche merkte aber nicht, dass mit jedem schnellen Schritt ein Geweih sich auf seinem Kopfe bildete. Auch der Hals verlängerte mehr und mehr, ja, seine ganzer Körper begann sich verwandeln. Aktäon hatte die Gestalt von einem Hirsch angenommen.

Nach langer Flucht hielt er endlich inne und wagte sein Spiegelbild in einem Wasser zu betrachten. "Oh, du Unglücklicher!", wollte er noch rufen, aber kein Wort war aus seinem Munde zu hören. Was sollte Akäon nun tun? Heimkehren in die Arme der Eltern oder sich im Wald verbergen? Er überlegte.

Da stürzten plötzlich seine Hunde heran, die er herrenlos zurückgelassen hatte. Sie waren hungrig, auf Beute aus, und hetzten den Hirsch durch die Wälder. Nach langer Jagd bekam einer der Hunde aber seinen Rücken zu fassen, worauf sich die ganze Meute auf ihn stürzte.

Der Gequälte sank schon auf die Knie, da hörte er plötzlich Stimmen. Die Gefährten hatten das Heulen der Hunde gehört und waren ihnen gefolgt. Schnell rissen sie die Hunde zurück und streckten den Hirsch mit ihren Speeren nieder. So ging Aktäon in einen traurigen Tod, und die ahnungslosen Gefährten suchten noch lange weiter.

Die Hunde aber begannen ihren Herrn zu vermissen. Winselnd suchten sie überall, bis sie zur Höhle des Zentauren Chiron gelangten. Dieser hatte Mitleid, und fertigte ihnen ein Standbild aus Erz, das dem Aktäon sehr ähnlich war. Als die Hunde dieses erblickten, sprangen sie empor und gebärdeten sich so fröhlich, als hätten sie ihren Herrn endlich wiedergefunden.

Erklärungen:

[1] Zentauren sind Fabelwesen, halb Mensch und halb Pferd. Manche sind freundlich und gebildet, andere wild und unbeherrscht.

[2] Artemis ist die Göttin der Jagd und eine Tochter des Zeus.

[3] Nymphen sind Naturgottheiten, die als Töchter des Zeus gelten.